70 Jahre seit der sog. Flucht:

Über ein verschwiegenes NS-Massenverbrechen

 

Wenn von „Flucht und Vertreibung“ die Rede ist, stellen sich die meisten Deutschen endlose Trecks elender Menschen vor, die am Ende des Zweiten Weltkrieges vor barbarisch wütenden sowjetischen Armeeeinheiten flüchteten und von brutalen Polen und Tschechen beraubt und aus ihrer Heimat vertrieben wurden. Die Frage, warum und wie rund 11 Millionen jener Deutschen aus dem östlichen Europa, die als Vertriebene gelten, in den Jahren 1939–1945 in das Gebiet der heutigen Bundesrepublik gelangten, wird bis heute selten als eine empirische Frage der historischen Forschung behandelt. Die sog. Flucht ist ein wichtiger Teil dieser Geschichte, und es war keine freiwillige Flucht von verängstigten Deutschen im gängigen Sinne des Wortes. In der deutschen Nachkriegsliteratur wurden mannigfaltige Erfahrungen der Betroffenen mit einem dichten Nebel umhüllt. Viele Aussagen von Zeitzeugen wurden aus den verbreiteten Geschichtsbildern verdrängt. Das betrifft insbesondere die vom NS-Regime seit dem Sommer 1944 organisierten Zwangsevakuierungen deutscher Zivilbevölkerung. Die deutsche Öffentlichkeit ist nach wie vor in Relikten jener NS-Propaganda verhaftet, die diese Evakuierungen und damit das letzte NS-Massenverbrechen zu vertuschen trachtete.

 

Die am 18. November 2004 von der bekannten polnischen Juristin, Diplomatin und Politikerin Irena Lipowicz gestellte Frage blieb deshalb ohne Antwort:

„Wenn Sie sagen, dass alle Nazis bestraft worden sind, dann lesen Sie Horst Bieneks Gleiwitzer Trilogie, wo er beschreibt, wie man den Menschen bis zum letzten Moment untersagt hatte zu fliehen. Dann, im Januar 1945, mußten sich die Gleiwitzer plötzlich in einen Treck begeben. Es waren Frauen und Kinder. Die Leichen lagen bis Tschenstochau. Wir hatten in der Familie ein Kind, und wir hatten keine Ahnung, ob das ein jüdisches oder ein polnisches oder ein deutsches Kind war. Ein 1945 in Schlesien gefundenes Kind konnte alles sein. Das Problem ist, dass auch diese Menschen, die diese Anordnungen getroffen haben, nie bestraft worden sind. Lesen Sie Siegfried Lenz, lesen Sie Horst Bienek, lesen Sie Günter Grass und Sie werden sehen, was die Funktionäre der NSDAP in den letzten Jahren ihrer Herrschaft machten. Wie viele Prozesse wurden wegen dieser Evakuierungen angestrengt, oder wegen Versuche, deutsche Frauen davon zu überzeugen, sich aus patriotischen Gründen in den letzten Kriegsmonaten das Leben zu nehmen? Wie viele Prozesse sind gemacht worden?[1]

Die für das Leid der deutschen Zivilbevölkerung in den letzten Kriegsmonaten verantwortlichen Nazis wurden nie bestraft. Geradezu im Gegenteil: Die Verantwortung des NS-Regimes dafür wird bis heute verschwiegen. Und nicht nur das. Sie wird der sowjetischen Armee zugeschrieben und mit ausgewählten Zeitzeugenberichten belegt. Abweichende Stimmen der Zeitzeugen kennen heute nur wenige Deutsche. Die Bilder der sog. Flucht sind zu allgemein akzeptierten Metapher stilisiert worden, um die Legende am Leben zu halten, dass Millionen Deutsche in den letzten Kriegsmonaten aus Angst vor den Russen geflüchtet seien. Es legen jedoch auch widersprechende Informationen vor:

„Alle Ostflüchtlinge, die ich befragte, haben mir gesagt, sie seien nicht freiwillig geflohen, sondern auf polizeilichen Befehl. Keiner von ihnen glaubte, daß die Russen ihnen etwas getan hätten. Nur jene, die aus solchen Teilen des Ostens stammen, welche früher stark mit Polen durchsetzt waren, meinten, gegen die Polen, die ihnen wahrscheinlich zu Leibe gehen würden, hätten sie sich schon selbst gewehrt. Daraus geht klar hervor, daß die Ostdeutschen auf den Goebbels-Schwindel von den Bolschewisten-Greueln nicht mehr hineinfallen.“

Diese Sätze notierte der Generalmajor a. D. Paul Freiherr von Schoenaich am 1. März 1945 in seinem Tagebuch – und fuhr fort:

„Man fragt, was die Nazibonzen sich bei dieser zwangsweisen Vertreibung der Ostdeutschen von Haus und Hof gedacht haben. [...] Herr Goebbels hat früher einmal gesagt, wenn sie gezwungen werden sollten, von der Bildfläche zu verschwinden, so solle das mit einem Knalleffekt geschehen, der die ganze Welt erzittern lassen werde. Ich habe das damals für das Geschwätz eines Maulhelden gehalten. Jetzt sehe ich, daß es durchaus ernst gemeint war. Mit dürren Worten heißt das, die Herren sehen ihr letztes Stündchen gekommen, da wollen sie das ganze deutsche Volk mit in die Katastrophe ziehen. So handeln nicht Narren, sondern nur Schufte, wie sie die Weltgeschichte bisher noch nie gesehen hat. Wenn das deutsche Volk sich nicht in letzter Minute aufrafft, hat es sein Schicksal verdient.[2]

Die Katastrophe, in der sich die deutsche Nation am Ende des Zweiten Weltkriegs befand, wurde seitdem oft beklagt, aber die Verantwortlichen wurden nicht einmal in der historischen Fachliteratur bisher ermittelt und benannt.

 

In der Bundesrepublik wird bis heute der Legende verbreitet, „die Russen“ seien schuldig. Das NS-Regime erscheint in diesen Geschichtsbildern als Beschützer der Deutschen. Insbesondere die angeblichen Verdienste der Wehrmacht werden oft hervorgehoben, als hätte sich die für die expansionistische Kriegsführung hauptverantwortliche Armee plötzlich in eine opferbereite humanitäre Hilfsorganisation verwandelt. „Schaut der Historiker auf die Winter-Katastrophe 1944/45“, schrieb z. B. 1986 der bekannte Historiker Andreas Hillgruber, so könne er nur eine Position einnehmen,

„er muß sich mit dem konkreten Schicksal der deutschen Bevölkerung im Osten und mit den verzweifelten und opferreichen Anstrengungen des deutschen Ostheeres und der deutschen Marine im Ostseebereich identifizieren, die die Bevölkerung des deutschen Ostens vor den Racheorgien der Roten Armee, den Massenvergewaltigungen, den willkürlichen Morden und den wahllosen Deportationen zu bewahren und in der allerletzten Phase den Ostdeutschen den Fluchtweg zu Lande oder über See nach Westen freizuhalten suchten.“[3]

Dementsprechend präsentierte die bayerische Staatsministerin Christa Stewens am 8. Mai 2002 das folgende Geschichtsbild:

„Im Einmarschgebiet der Roten Armee durchlitten die in endlosen Trecks flüchtenden Bewohner grauenhafte Torturen. Ungezählte wurden unter russischen Panzerketten zermalmt, versanken unter Bombenhageln im gefrorenen Haff oder wurden wahllos niedergemacht. Dem Aufruf Ilja Ehrenburgs zum Töten und Schänden folgten die Eroberer wie im Rausch. Nicht endende Massenverge­waltigungen zählen zu den unaussprechlichen Greueln in diesem letzten Akt des Verhängnisses. Bleibende Erinnerung gebührt den Verteidigern im Osten, darunter vielen bayerischen Soldaten. Nicht um Verlängerung des Krieges war es ihnen gegangen. Ihr Einsatz galt der gequälten Zivilbevölkerung. Immer wieder stoßen wir auf die Aussagen der überlebenden Kämpfer, die sich nach eigenem Bekunden elend vorgekommen wären, wenn sie die wehrlosen Frauen, Kinder und Alten, für die sie letzte Hoffnung waren, im Stich gelassen hätten.[4]

Das Leid der deutschen Zivilbevölkerung im östlichen Europa in den letzten Kriegsmonaten wird bis heute unter der Metapher „die Flucht“ subsumiert, als gäbe es keine Quellen und Aussagen von Zeitzeugen, die ihr widersprechen, als ginge es nicht um eine plumpe Geschichtsmanipulation mit dem Ziel, die letzten Massenverbrechen des NS-Regimes zu kaschieren.

 

Mehr hier:

 

Joseph Goebbels als Zeitzeuge

Über die NS-Räumungspolitik

Die Vertreibung der Deutschen aus Breslau

Die NS-Evakuierungen und die Tschechoslowakei

 

Für weitere Informationen vgl. das Buch Eva Hahn/Hans Henning Hahn: Die Vertreibung im deutschen Erinnern: Legenden, Mythos, Geschichte, Paderborn 2010, S. 210–296, an das sich die folgenden Darstellungen anlehnen.

 


 


[1] Irena Lipowicz in: Achtes deutsch-polnisches Podiumsgespräch. Das Europa der 25: Solidarität – ein neues Fremdwort, Darmstadt, 18. November 2004, Dokumentation, hrsg. vom Deutschen Polen-Institut, Darmstadt 2005, S. 31.

[2] Paul Freiherr von Schoenaich: Mein Finale mit dem geheimen Tagebuch 1933-1945, Flensburg-Hamburg 1947, S. 498.

[3] Andreas Hillgruber: Zweierlei Untergang. Die Zerschlagung des Deutschen Reiches und das Ende des europäischen Judentums, Berlin 1986, S. 24 f.

[4] Rede von Staatsministerin Christa Stewens. Gedenkstunde zum 8. Mai 1945, Oberschleißheim, den 8. Mai 2002, hier zit. nach http://www.stewens.de/pdfs/M020508-Gedenk.doc v. 13. Juli 2004.