Zwei Neuerscheinungen zur sudetendeutschen Geschichte
Der ehemalige Redakteur des Prager Tagblatts, Rudolf Fuchs (1890-1942) lehnte es
ab, als ein Sudetendeutscher bezeichnet zu werden: „Ein Sudetendeutscher war ich
nie“, schrieb er und bezeichnete sich selbst als „deutschen Schriftsteller aus
Böhmen“. (Rudolf Fuchs: „Die Republik wird auferstehen!“, in: Stimmen aus
Böhmen. Eine Sammlung, London 1944, S. 2-3, hier S. 3)
Als ‚Sudetendeutsche’ bezeichneten sich nicht alle in den Böhmischen Ländern
lebenden Deutschen. Zum ersten Mal verwendete den Begriff ‚sudetendeutsch’ der
alldeutsche Wanderlehrer und später bekannte völkische Politiker Franz Jesser
, der 1920-1933 als Senator die
Deutsche Nationalsozialistischen Arbeiterpartei in der Prager
Nationalversammlung repräsentierte, im Jahre 1903. Die Geschichte des Begriffs
‚sudetendeutsch‘ ist von Anfang an mit der Entwicklung völkischer Formen der
deutschen kollektiven Identität enger verbunden als mit den
deutsch-tschechischen Beziehungen. Die ‚Sudetendeutschen’ wollten sich nicht als
die deutsche Minderheit in den Böhmischen Ländern bzw. in der Tschechoslowakei
verstehen, sondern als eine deutsche Volksgruppe bzw. ein deutscher Volksstamm.
Trotz häufiger Verwendung sind die Begriffe ‚sudetendeutsch‘ und ‚die
Sudetendeutschen‘ von vielen Mißverständnissen begleitet. Die sudetendeutsche
Bewegung stellte in der deutschsprachigen Minderheit der Ersten
Tschechoslowakischen Republik neben Sozialdemokraten, Kommunisten, dem
agrarische Milieu, religiös und konfessionell (Juden, Katholiken, Evangelische)
geprägten Gruppen, diversen bürgerlichen demokratischen Richtungen und den
Prager deutschen Intellektuellen (um nur einige zu nennen) eine Minderheit dar.
Sie war antiparlamentarisch, antirepublikanisch, revisionistisch und
antisemitisch, und arbeitete von Anfang an daran, die Tschechoslowakei zu Fall
zu bringen.
Bei dem Begriff ‚die Sudetendeutschen’ haben wir es mit einem politischen
Kampfbegriff zu tun und keiner ethnischen Bezeichnung, denn es läßt sich keine
ethnisch abgrenzbare Gruppe als ‚sudetendeutsch’ erkennen. Sie wurde von
völkischen Politikern als ‚Volksgruppe’ erfunden, dementsprechend wurde auch der
Begriff ‚Sudetenland’ als das ‚Heimatland der sudetendeutschen Volksgruppe’
konstruiert. Damit wurden unterschiedliche Landstriche entlang der
tschechisch-deutsch-österreichischen Grenze bezeichnet. Der Volkskundler Georg
R. Schroubek bemerkte dazu: „Diese Landesteile Böhmens und Mähren-Schlesiens,
die nicht einmal eine zusammenhängende Flächenausdehnung besitzen, haben nie
eine Verwaltungseinheit gebildet, ja sie unterstanden sogar verschiedenen
Territorien (Königreich Böhmen, Markgrafschaft Mähren, Schlesische Herzogtümer).
Ohne eigene Geschichte, ohne politisches, ökonomisches, kulturelles und
religiöses Zentrum, in sehr verschiedene geographische Zonen unterteilt, waren
diese Gebiete auch soziologisch durchaus inhomogen.“ (Georg R. Schroubek: Die
künstliche Region: Beispiel „Sudetenland“, in: Helge Gerndt / Georg R. Schroubek
[Hg.]: Regionale Kulturanalyse. Protokollmanuskript einer wissenschaftlichen
Arbeitstagung der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde vom 8.-11. Oktober 1978
in München, München 1979, S. 25-29, hier S. 25)
Wohl nur wenige, die den Begriff ‚Sudetenland‘ heute unreflektiert benutzen,
machen sich bewußt, daß sie den 1938 eingerichteten ‚Reichsgau Sudetenland’ in
einem retrospektiven mental mapping fortsetzen.
‚Die Sudetendeutschen’ dürfen weder mit allen Deutschen in der Geschichte der
Böhmischen Länder noch mit allen vertriebenen ehemaligen tschechoslowakischen
Bürgern deutscher Nationalität gleichgesetzt werden. Diesem Umstand müssen
Historiker Rechnung tragen, indem sie sudetendeutsche Geschichte nicht mit der
Geschichte der deutschsprachigen Bevölkerung des heutigen Tschechien
gleichsetzen. ‚Sudetendeutsche Geschichte’ ist die Geschichte der
sudetendeutschen völkischen Bewegung und betrifft daher nur einen Teil jener
deutschsprachigen Bevölkerung.
Die bemerkenswerte Geschichte der sudetendeutschen völkischen Bewegung führte zu
einem wohl einzigartig zu nennenden Nationsbildungsprozeß. Die ‚Erfindung‘ der
sudetendeutschen Volksgruppe im 20. Jahrhundert weist zahlreiche Merkmale auf,
die wir bei allen modernen europäischen nationalen Bewegungen beobachten können,
von der Entstehung eines Vereins- und Verlagswesens über umfassende
Geschichtskonstruktionen und Traditionsbildungen bis zum Literaturkanon und
einem spezifischen sprachlichen Referenzrahmen. Die Kontinuität der
sudetendeutschen völkischen Traditionen über die Vertreibung nach dem Zweiten
Weltkrieg hinaus stellt ein einzigartiges Phänomen dar.
Die von der Sudetendeutschen Landsmannschaft heute nach eigenem Bekunden
repräsentierte ‚sudetendeutsche Volksgruppe’ stellt, wenn man ihren Anspruch
ernst nehmen will, in der Geschichte der europäischen Nationalbewegungen ein
seltenes, wenn nicht gar einmaliges Phänomen dar. Aus der Alldeutschen Bewegung
in der Habsburgermonarchie hervorgegangen, entwickelte die sudetendeutsche
völkische Bewegung 1918-1938 in der Ersten Tschechoslowakischen Republik ein
sich allmählich verbreiterndes politisches, soziales und kulturelles Milieu und
Organisationsgeflecht. Seit 1938 wurde dessen freie Entwicklung durch die
Einbindung in das nationalsozialistische Regime im Deutschen Reich während des
Zweiten Weltkriegs sowie danach durch die Aussiedlung der Deutschen aus der
Tschechoslowakei behindert. Im Zuge der Rekonstituierung der sudetendeutschen
Organisationen und damit der Institutionalisierung der sudetendeutschen Bewegung
als ‚sudetendeutsche Volksgruppe’ wurde die Tradition in der Bundesrepublik
Deutschland wiederaufgenommen.
Da sich die sudetendeutsche völkische Bewegung, also ‚die Sudetendeutschen‘,
stets als einen Teil der deutschen Nation verstanden hat und den Anschluß an den
deutschen Nationalstaat anstrebte, bildet die sudetendeutsche Geschichte in
erster Linie einen Bestandteil der deutschen Geschichte. Räumlich gehört die
sudetendeutsche Geschichte zur Geschichte dreier benachbarter Staaten:
Österreich , Tschechoslowakei und Deutschland , geht aber als historisches
Phänomen von europäischer Wirkung nicht nur die Historiker dieser Länder an. Die
sudetendeutsche Geschichte stellt den fehlgeschlagenen völkischen Versuch einer
Nationsbildung dar, deren Schwerpunkt konsekutiv bis 1918 in der Habsburger
Monarchie, 1918-1938 in der Ersten Tschechoslowakischen Republik und seit 1938
in Deutschland bzw. seit 1949 in der Bundesrepublik Deutschland zu lokalisieren
ist, die aber ohne die jeweilige Interdependenz der völkischen Bewegungen in
allen drei Staaten nicht erfasst werden kann.
Da 1938, am Vorabend des Zweiten Weltkriegs, die sudetendeutsche völkische
Bewegung im Mittelpunkt des internationalen Geschehens stand, wird künftig kein
Historiker der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts umhin können, sich
auch zur sudetendeutschen Geschichte äußern zu müssen. In zwei Neuerscheinungen
liegen nun Studien vor, die dazu beitragen, daß solche Aussagen künftig
historisch besser fundiert sein werden als bisher.
Hundert Jahre sudetendeutsche Geschichte hier
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