Die Bezeichnung „die Sudetendeutschen“ wird heute in zweierlei Bedeutung
verwendet:
1. Im volkstümlichen Sprachgebrauch wird sie
als die Bezeichnung aller am Ende des Zweiten Weltkrieges aus Tschechien
ausgewiesenen deutschsprachigen Einwohner, die bis 1938 Staatsbürger der
Tschechoslowakischen Republik waren, benutzt.
2. In präzisen Sprachgebrauch werden als
„Sudetendeutsche“ nur diejenigen ehemaligen tschechoslowakischen Staatsbürger
bezeichnet, die sich zu der sudetendeutschen völkischen Bewegung bekannt haben
und heute bekennen, sei es durch ihre aktive Partizipation am sozialen,
politischen und kulturellen Leben dieser Bewegung, oder durch ihre aktive
Unterstützung ihrer politischen Repräsentation (1933-1935 Sudetendeutsche
Heimatfront, 1935-1938 Sudetendeutsche Partei, 1938-1945 NSDAP und nach dem
Zweiten Weltkrieg die Sudetendeutsche Landsmannschaft).
Die Vermischung dieser beiden Verwendungen
der Bezeichnung „die Sudetendeutschen“ wurde von der sudetendeutschen völkischen
Bewegung propagiert, die sich von Anfang an als Vertreterin nicht nur der
großdeutschen völkischen Bewegung in den böhmischen Ländern stilisierte und
präsentierte, sondern stets auch gleichzeitig bemüht war, den Eindruck zu
erwecken, sie repräsentiere die gesamte deutschsprachige Bevölkerung in der
Tschechoslowakei.
Die Bezeichnung „die Sudetendeutschen“ ist
keine historisch oder ethnisch begründete und politisch neutrale Bezeichnung,
sondern wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts als ein politischer Kampfbegriff
erfunden. Das erläuterte ihr Schöpfer, Franz Jesser, in folgender Weise:
„Zum Gegenstande ‚Sudetenländer,
Sudetendeutsche’ möchte ich hinzufügen, daß ich schon damals [um 1904]
grundsätzlich die Einheit aller Deutschen aus den Sudetenländern betonte und
hervorhob. Heute könnte dieser Standpunkt als natürlich und als
selbstverständlich erscheinen. In Wirklichkeit dachten fast alle
Sudetendeutschen von alters her im Rahmen der geschichtlicher Kronländer
und sprachen daher von den Deutschen in Böhmen, in Mähren, in Schlesien. Ich
aber hatte schon damals die anzustrebende Personalautonomie ins Auge gefasst,
in deren Rahmen die Länderterminologie keinen Platz mehr hatte. Um zu erweisen,
wie vorsichtig man in der Geschichtsschreibung gegen die Anwendung späterer
Maßstäbe – also gegen sich selber –, sein muß, Folgendes: Bis 1918 bestand
sogut wie keine Aussicht dafür, daß sich die Bezeichnung „sudetendeutsch“
durchsetzen würde. Keine Zeitung von Rang, kein offizieller Parteimann hätte
ihn Gebraucht. Warum? Böhmen einerseits und Mähren und Schlesien andererseits
lebten ganz für sich [...]. Die historischen Länder waren eben starke, in der
Geschichte wurzelnde Gebilde.“[1]
Die Bezeichnung fand erst nach 1918 ihren
Eingang in den allgemeinen deutschen Sprachgebrauch, als sie von der
großdeutschen völkischen Bewegung im Rahmen der sog. sudetendeutschen
Stammeserziehung popularisiert wurde: „Sudetendeutsche Stammeserziehung ist
eine Volkserziehung solcher Art, daß sie unser Sudetendeutschtum als Glied des deutschen
Gesamtvolkes aufrechterhalten hilft.“[2]
Die Grundzüge der hiermit propagierten
kollektiven Identität formulierte der Begründer der sudetendeutschen
Volksbildung, Emil Lehmann, im Jahre 1923 folgenderweise:
„Das Bewußtsein einer breiten Rückenanlehnung
und Rückendeckung – mag auch die politische Grenze unmittelbarere Wirkungen
hindern – ist allen Sudetendeutschen gemeinsam. Sie fühlen sich als Vorposten,
als Außenposten. Dabei ist aber eigenartig die Nähe zu den Mittelpunkten
gesamtdeutschen und reichsdeutschen Lebens. Das ist bei keinem anderen
deutschen Außenposten im gleichen Maße der Fall: Das ermöglicht eine leichte
und bequeme Teilnahme. Man nimmt teil am binnendeutschen Leben, man hat das
Deutschtum als Außenposten zu schützen, zu verteidigen.“[3]
Nach dem Zweiten Weltkrieg knüpften in der
Bundesrepublik Deutschland alle bis heute existierenden sudetendeutschen
Vertriebenenverbände an diese völkische Tradition an. Nur sie konnten von der
staatlichen Förderung der Vertriebenen profitieren, während andere Traditionen
im Rahmen des Vertriebenenwesen nicht miteinbezogen worden sind. Deshalb können
heute mit dieser Bezeichnung nur diejenigen der Vertriebenen bezeichnet werden,
die sich zur sudetendeutschen kollektiven Identität bekennen und die Sudetendeutsche
Landsmannschaft als die
Repräsentantin der sudetendeutschen Volksgruppe anerkennen.
[1] Aus den
Erinnerungen Dr. Franz Jessers. Aufgezeichnet von Arthur Herr, in:
Stifter-Jahrbuch 3, 1953, S. 40-57, hier S. 55.
[2] Emil Lehmann: Sudetendeutsche Stammeserziehung, Eger-Leipzig 1923, S. 6.
[3] Emil Lehmann: Sudetendeutsche Stammeserziehung, Eger-Leipzig 1923, S. 17.