Sudetendeutsche Geschichtsschreibung


Der Begriff „Sudetendeutsche Geschichtsschreibung“ bezeichnet jenen Teil der deutschen völkischen wissenschaftlichen Tradition, die sich mit der tschechischen Geschichte beschäftigt und von den sudetendeutschen wissenschaftlichen Einrichtungen gepflegt wird. Es handelt sich also keineswegs um die Summe geschichtswissenschaftlicher Publikationen von Autoren, die sich selbst als Sudetendeutsche bekennen oder aus den böhmischen Ländern abstammen, sondern um solche historisch-politischen und geschichtswissenschaftlichen Texte, die sich der von den sudetendeutschen Einrichtungen gepflegten Paradigmen bedienen. „Sudetendeutsche Geschichtsschreibung“ stellt daher ein ähnlich lose definierbares Gebiet der Geschichtsschreibung, wie etwa die „kommunistische Historiographie“ dar.

Die Sudetendeutsche Geschichtsschreibung teilt das Forschungsfeld mit der historischen Bohemistik, unterscheidet sich jedoch von anderen Traditionen der historischen Bohemistik durch die Verwendung des spezifischen deutsch-völkischen Paradigmas, mit dem sie die tschechische Geschichte betrachtet. Das grundlegende Axiom dieses Konzepts betrachtet die tschechische Geschichte nicht als eine eigenständige Nationalgeschichte, sondern als nur einen Teilbereich der Geschichte eines national nicht ausgeprägten ‚Raumes’ (heute wird dafür die Bezeichnung ‚multikultureller Raum’ oder die Hinweise auf den „historischen Raumbegriff Ostmitteleuropa“ gern verwendet).

Dabei wird impliziert, daß die tschechische Geschichte nicht wie die Nationalgeschichten anderer europäischer Völker erzählt werden sollte, weil die Tschechen kein „Staatsvolk“ wie etwa die Polen oder Franzosen, sondern nur ein „westslawisches Volk in Böhmen“ (so Brockhaus) seien. Die tschechische Geschichte sei nur ein Bestandteil der Geschichte der böhmischen Länder und diese wiederum sei eine Geschichte zweier Völker (oder Volksgruppen) gleichermaßen, der Tschechen und der Deutschen. Die tschechisch- und deutschsprachigen Bewohner der böhmischen Länder sollen in einem symbiotischen Wechselverhältnis gelebt haben, so daß die „böhmische“ Geschichte keineswegs mit der „tschechischen“ Geschichte gleichgesetzt werden könne.

Damit wird der tschechischen Nation in dieser Erzählung die Berechtigung verwehrt, sich auf eine eigenständige und mit anderen europäischen Völkern gleichwertige Nationalgeschichte zu berufen.

Die Vorstellung, daß die tschechische Nation keine wirklich eigenständige Geschichte vorzuweisen habe, da sie in einem an die deutsche Geschichte stets durch Sonderbeziehungen gebundenen und zum großen Teil auch von Deutschen besiedelten ‚Raum’ lebte, ist die Perspektive, in der die meisten deutschen Historiker im ausgehenden 19. und während des 20. Jahrhunderts die tschechische Geschichte darzustellen pflegten. Dies ist auch jenes Paradigma, das in der tschechischen Literatur allgemein als „die deutsche Sicht“ bezeichnet wird.

Diese Sicht der tschechischen Geschichte dominierte von Anfang an die sudetendeutsche historische Literatur, wurde von den sudetendeutschen Historikern vor und nach dem Zweiten Weltkrieg verbreitet, obwohl sie dem NS-Regime die Legitimierung lieferte, den sog. böhmisch-mährischen Raum als einen Bestandteil des „Lebensraum des deutschen Volkes“ zu behandeln und die Tschechen dementsprechend zu mißhandeln. Der Umstand, dass die Traditionen der sudetendeutschen Historiographie ohne kritische Aufarbeitung und Distanzierung auch weiterhin von den sudetendeutschen wissenschaftlichen Einrichtungen sowie in der sudetendeutschen historisch-politischen Publizistik gepflegt werden, darf als eine der Ursachen für die nach wie vor vorhandenen Belastungen der deutsch-tschechischen Beziehungen gelten.


Für näheres vgl.

Texte zur Geschichte der sudetendeutschen wissenschaftlichen Einrichtungen
Sudetendeutsche „Wissenschaft“ und Politik