Gerd Steinwascher in Oldenburger Jahrbuch 112, 2012, S.
203-205
über Eva Hahn / Hans Henning Hahn: Die Vertreibung im deutschen Erinnern.
Legenden, Mythos, Geschichte, Paderborn u. a. 2010
Anzuzeigen ist sicherlich ein „Lebenswerk“ des in Oldenburg wirkenden
Wissenschaftlerpaares Hahn, das sich − Widerspruch nicht fürchtend – auf ein
immer noch schwieriges, freilich immens wichtiges Feld deutscher Geschichte bzw.
deutscher Geschichtspolitik wagt. Der Rezensent und „Nichtfachmann“ hat sich der
Mühe unterzogen, diese über 800 Seiten starke „Keule“ zu lesen, weil er
neugierig war und weil er selbst vor wenigen Jahren das archivwürdige Schriftgut
des „Bundes der Vertriebenen“ in Oldenburg zusammen mit den damaligen
ehrenamtlichen Mitarbeitern der Vertriebenenorganisation vor dem Schimmelpilz
rettete und im Staatsarchiv Oldenburg für die Forschung zur Verfügung stellte.
Schließlich ist das Thema in Oldenburg präsent, auch als Streitthema, wie die
Auseinandersetzungen um das Vertriebenendenkmal unlängst zeigten. Es lohnt also,
näher hinzuschauen.
Das Buch ist keine Schilderung der Ereignisse, die Millionen von
deutschstämmigen Menschen aus dem „Osten“ in die heutige Bundesrepublik führten
– eine solche Untersuchung wird aber von den Autoren gerade als Desiderat
eingefordert. Material dazu haben sie natürlich geliefert, auf den wichtigen und
lesenswerten Anhang, der eigentlich keiner ist (S. 659-726), sei ausdrücklich
verwiesen. Das Buch behandelt aber den Umgang mit dem als „Vertreibung“ nur
unzureichend gekennzeichneten Vorgang vor allem in der Bundesrepublik – in der
DDR war das Thema keines und durfte auch keines sein. Die Verfasser nehmen dabei
kein Blatt vor den Mund, kritisieren Kollegen, Politiker und Publizisten,
stellen die bundesdeutschen Vertriebenenorganisationen an den Pranger. Das Buch
hat politisch-pädagogische Ambitionen und endet nicht zufällig mit Erika
Steinbach und „ihren“ Historikern (Heinz Nawratil, Alfred de Zayas und Peter
Glotz); fast versöhnlich folgt darauf dann das Portrait von Kurt Nelhiebel als
Beispiel eines Vertriebenen, der nicht in das Klischee passt.
Das Buch wird und soll auch Widerspruch herausfordern, ignorieren kann es
jedenfalls keiner, der sich zukünftig mit dem Thema „Vertreibung“ ernsthaft
auseinandersetzt. Tabus sollte es dabei nicht geben: Immerhin muss sich auch H.
H. Hahn ziemlich schonungslos mit seinem „Doktorvater“ Theodor Schieder
auseinandersetzen. Ein Phänomen ist der bisherige Umgang mit einem so wichtigen
Gegenstand deutscher Geschichte schon. Während der Nationalsozialismus bis in
die kleinsten Facetten aufgearbeitet wurde und wird, war das Thema der
Vertreibung lange eher von Interessenverbänden, Politikern und zuweilen
fachfremden Publizisten besetzt. Die große Schiedersche Dokumentation zur
Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa war ebenfalls eine interessierte
politische Auftragsarbeit, ebenso die Veröffentlichung des Statistischen
Bundesamtes von 1958 – so jedenfalls das nachvollziehbare Urteil der Verfasser.
In einem einleitenden Teil machen sie deutlich, wie unsicher unser Wissen über
die „Vertreibung“ ist: Jeder unbedarfte Leser wird von den Veröffentlichungen in
ein Zahlenlabyrinth gestürzt, muss darauf achten, dass er nicht Legenden
aufsitzt, mit denen Stimmung gemacht wurde. Was in „Nemmersdorf“ oder „Aussig“
wirklich passierte, ist noch keineswegs abschließend zu beurteilen. Beneš ist
weiterhin der negative „Star“ der „Vertreibungsliteratur“, ein Bild mit
Tradition aus der Zeit vor 1945, das schon von Carl von Ossietzky kritisiert
worden war. Hahns fordern endlich eine vorurteilsfreie Beurteilung des
Staatsmanns.
In einem zweiten größeren Abschnitt werden die verdrängten Erinnerungen wach
gerufen, die historische Vorgeschichte der Potsdamer Beschlüsse und der von den
Alliierten verordneten Vertreibung der deutschstämmigen Bevölkerung vor allem
aus dem neuen Polen und der Tschechoslowakei. Hier geht es um das Verhältnis der
deutschen Minderheiten zum Nationalsozialismus vor dem Weltkrieg, es geht um die
Umsiedlungspolitik der Nationalsozialisten, die einherging mit Vertreibung und
Massenmord, es geht schließlich um die Räumungs- und Zwangsevakuierungspolitik
mit der einsetzenden militärischen Niederlage.
Dieser Abschnitt im Buch hat deshalb zentrale Bedeutung, weil im
Nachkriegsdeutschland – wenn überhaupt – zwar die Verbrechen der
Nationalsozialisten erwähnt, deren Bezug zur alliierten Politik in Kriegs- und
Nachkriegszeit und zur Vertreibung aber selten hergestellt wurde und wird. Die
Vereinnahmung der deutschstämmigen Bewohner Osteuropas als „Volksdeutsche“,
deren Instrumentalisierung für die NS-Siedlungspolitik und für den Krieg bis hin
zu den furchtbaren Zwangsevakuierungen ohne Rücksicht auf Überlebenschancen
hatten eben Konsequenzen, die den Nationalsozialisten aber gerade gleichgültig
waren. Für sie war es egal, welche Schlüsse die Alliierten aus der Zerschlagung
der osteuropäischen Staatenwelt und der Umsiedlung von Deutschen zur
Kolonisierung Osteuropas zogen. Sie hinterließen bis zum Kriegsende in Osteuropa
ein Chaos von unvorstellbarem Ausmaß, eine „geplante humanitäre Katastrophe“ (S.
262 ff.), in der nicht nur zahllose Deutsche herumirrten und umkamen. Immer
wieder verweisen die Autoren auch in den späteren Kapiteln auf das Versäumnis,
das Kriegsgeschehen und die Situation im Großdeutschen Reich, das ja etwas
anderes war als das Deutschland von 1937, in die Analyse einzubeziehen.
Der weitaus größte Teil der Menschen kam zwischen 1944 und 1946 in das Gebiet
der heutigen Bundesrepublik, auch als Evakuierungsopfer deutscher Behörden. Der
Begriff „Vertriebene“ ist einer der deutschen Nachkriegsgeschichte, den man
hinterfragen sollte, gerade wenn man ihn – wie im Buch geschehen – nutzt. Dass
darunter von den Nationalsozialisten Zwangsevakuierte, Flüchtlinge, Umsiedler
wie auch zwangsweise Ausgesiedelte – durch illegale Gewalt wie durch die
geregelte Aussiedlung durch die Alliierten – verstanden werden können, dass man
bei der Ausstellung von Vertriebenenausweisen in der Bundesrepublik auch weit
über diese genannten Gruppen hinaus ging, muss man zumindest zur Kenntnis nehmen,
wenn man mit diesem schillernden Begriff hantiert.
Der Grund für diese Schwierigkeiten wie für das im Buch eingangs geschilderte
und im Anhang nochmals ausführlich belegte und kritisierte Zahlenlabyrinth wird
im dritten und vierten Abschnitt erklärt: Ausschlaggebend für den heute noch
beliebigen Umgang mit Zahlen und Urteilen – so der Vorwurf des Völkermords, den
schon und ausgerechnet ein Alfred Rosenberg erhob, bevor man ihn hinrichtete –
ist die Form des Erinnerns an die Vertreibung, die ein interessiertes Erinnern
war, das von staatlicher Seite gestützt wurde und sehr schnell in die Zeiten des
Kalten Krieges passte. Dass hierbei ehemalige Nationalsozialisten bei den
Organisationen der Vertriebenen, bei den Statistikern (Alfred Bohmann, S. 712
ff.), aber auch bei den Historikern (Theodor Schieder) mit den Ton angaben,
erstaunt eher nicht. Eher dann schon die Tatsache, dass es gegen deren Argumente
und Vokabular wenig Widerspruch gab. Die Instrumentalisierung der
Vertriebenenorganisationen durch die bundesdeutsche Politik bis heute gehört in
dieses Szenario.
Wie schief das Bild der Vertreibung ist, zeigt eine einfache Beobachtung: Es
wird bestimmt vom Treck, nicht von der Eisenbahn, in der die von den Alliierten
verfügte Zwangsaussiedlung von 4,8 Millionen Menschen ohne Gräueltaten
durchgeführt wurde. Der „Brünner Todesmarsch“, der im Buch nicht relativiert,
aber einer differenzierten Analyse unterworfen wird, dient als Normalität der
Vertreibungsbilder, nicht als Ausnahmeerscheinung, als ein Verbrechen, das
keineswegs von den Alliierten und auch nicht von der tschechischen Verwaltung in
Prag akzeptiert wurde. Das Bild der Vertreibung ist also auch und gerade eine
geschichtspolitische Entscheidung, ähnelte nicht nur in den Jahren nach dem
Krieg der NS-Propaganda – so in der Charakterisierung der Rotarmisten –, war
lange Instrument einer revisionistischen Politik, die Potsdam gerne mit
Versailles verglich und wie gehabt die eigene Verantwortung wegdrückte. Heimat
wurde „zur Metapher nationalen Besitztums“ (S. 430), auch wenn eigentlich
niemand genau weiß, wie viele der Vertriebenen sich nach ihr zurücksehnten und
sich entsprechend organisierten.
Als konstitutiv für das Bild des Erinnerns in der Bundesrepublik war die „Charta
der Vertriebenen“ von 1950, der „Tag der Landsmannschaften“ 1951 und schließlich
als Beitrag der Geschichtswissenschaft die Schiedersche Dokumentation, worauf
die Autoren ausführlich eingehen und sie als geschichtspolitische Entscheidungen
interpretieren. Frappierend ist, dass dieses Bild des Erinnerns auch noch in
einer Zeit funktionierte und funktioniert, in der für die dazu passende Politik
überhaupt kein Platz mehr ist. Dass es von den Rechtsextremisten aufgegriffen
wird, darf nicht verwundern. Nicht Thema dieses Buches, aber letztlich doch von
Bedeutung ist die erfolgreiche Integration der heimatlos gewordenen Menschen in
beiden deutschen Staaten, wobei – nebenbei bemerkt – die DDR mehr zu verkraften
hatte. Man wird bei aller Kritik an den Vertriebenenorganisationen, trotz des
hier penibel geführten Nachweises des Einflusses ehemaliger Nationalsozialisten
in den Landsmannschaften, fragen müssen, inwieweit sie hierbei nicht doch eine
positive Rolle spielten, der sie vielleicht noch mehr ihre Existenz verdankten
als es ihr außenpolitischer Konfrontationskurs erlaubte. Um so schwieriger ist
heute die Situation dieser Organisationen, die im Grunde mit jeder
Interessenvertretung ihrer Mitglieder nach innen ihre Überflüssigkeit
vorantrieben.
Das gewichtige Buch ist ein Appell an die historische Forschung, mit den
falschen Bildern des Erinnerns aufzuräumen. Hierfür fehlt es nach Ansicht der
Autoren nicht an Dokumenten und Erlebnisberichten, wohl aber an der methodischen
Redlichkeit und der notwendigen Unvoreingenommenheit. Wer die Vertreibung als
Völkermord darstellen will, wird sich seine Belege suchen, ebenso kann man die
für viele Millionen Menschen furchtbaren Ereignisse relativieren. Die Hahnsche
Kritik an dem bundesdeutschen Umgang mit dem Thema Vertreibung wird man
vielleicht als Versuch der Relativierung abtun, gerade dies aber hätten die
beiden Autoren für ihre große Leistung nicht verdient. Das Buch wird nicht nur
aufgrund der ungeheuren Materialfülle ein Standardwerk werden, sondern aufgrund
der Fragen, die es aufwirft und der methodischen Hinweise, die es gibt. Man kann
sich nur wünschen, dass es als konstruktiver Beitrag verstanden und aufgenommen
wird.