Emanuel Rádl:
Wer ist deutsch?


zit. aus Emanuel Rádl: Zur politischen Ideologie der Sudetendeutschen, Wien-Leipzig 1935, S. 11-18

Wer ist deutsch?

Animalisches Volkstum. Über das Wesen des Deutschtums sollten wir, die Tschechen, von den Deutschen belehrt werden. Es gibt jedoch vermeintliche Methoden für die Erkenntnis des Deutschtums, die jeder vernünftigen Aussprache im Voraus im Wege stehen. Der modern denkende Deutsche sollte sich klar darüber sein, daß er dem Deutschtum treu bleiben kann, auch wenn er für diese Methoden kein Verständnis findet. Es sei ein viel zitiertes Bekenntnis zum Deutschtum angeführt: „Ihr fühlt es, wie deutsch dies Land und Volk, kerndeutsch seit Urweltzeiten. Deutsch ist sein Blut, deutsch sein Herz, und deutsch sein Sinn und Treiben. Deutsch sind wir noch und wollen deutsch trotz dem und dem auch bleiben.“ Jeder Kenner des Deutschtums wird zugeben, daß Anastasius Grün durch diese Worte eine noch immer unter den Deutschen herrschende Stimmung angeschlagen hat. Ähnlich klingt die berühmte Definition des Deutschtums aus J. G. Fichtes bekannten „Reden an die deutsche Nation“: „Alle, die entweder selbst schöpferisch und hervorbringend das Neue leben, oder die, falls ihnen das nicht zuteil geworden wäre, das Nichtige wenigstens fallen lassen und aufmerkend dastehen, ob irgendwo der Fluß ursprünglichen Lebens sie ergreifen würde, oder die, falls sie auch nicht soweit wären, die Freiheit wenigstens ahnen und sie nicht hassen oder vor ihr erschrecken, sondern sie lieben: alle diese sind ursprüngliche Menschen, sie sind, wenn sie als ein Volk betrachtet werden, ein Urvolk, das Volk schlechtweg, Deutsche.“ Ich habe in diesem romantischen Gefühlserguß die besonders charakteristischen Worte unterstrichen. Eine ähnliche Auffassung des Deutschtums führt Alfred Rosenberg in seinem bekannten Mythus des 20. Jahrhunderts: „Vom Stammesbewußtsein Altgermaniens, über den deutschen Königsgedanken, preußische Neuführung, Alldeutschlandgefühl, formales Rechtsgefüge, wird heute das artgebundene Volksbewußtsein als größte Blüte der deutschen Seele geboren. Wir verkünden es nach diesem Erlebnis als die Religion der deutschen Zukunft ... Mythisches Ergreifen und bewußtes Erkennen stehen sich heute im Sinne des deutschen Eroberungsgedankens endlich einmal nicht feindlich, sondern sich gegenseitig steigernd gegenüber: der glühendste Nationalismus nicht mehr auf Stämme, Dynastien, Konfessionen gerichtet, sondern auf die Ursubstanz, auf die artgebundene Volkheit selbst, ist die Botschaft, die einst alle Schlacken schmelzen wird, um das Edle herauszuholen und das Unedle auszumerzen.“

Derartige Darstellungen des Deutschtums suchen sein Wesen in einem Urdrang, einer unterbewußten Kraft, die, rassenmäßig bedingt, das Deutschtum objektiv zusammenhält, sein Gemüt schicksalsmäßig formt und es zu welthistorischen Taten anspornt. An solchen Darstellungen fällt weniger in die Augen, ob sie die Deutschen als friedliebend oder kriegerisch, beschaulich oder tatkräftig, für Treue und Ehre begeistert oder als schlichte Bürger schildern; Hauptsache ist die Betonung des Unbewußten, elementar Natürlichen, Instinktiven, als der echten Grundlage des Nationalcharakters. Ein Bedenken, für das gerade der Gebildete kraft seines geistigen Berufes Verständnis haben sollte, mahnt zur Vorsicht gegenüber dem Sichverlassen auf die Instinkte: an welcher bestimmten Linie erhebt sich das instinktiv elementar aufgefaßte Deutschtum über die Ebene des bloß Animalischen? Denn auch das Tier wird von dunklen Ahnungen durch das Leben hindurchgeführt. Bewohnt es nicht, ebenso wie der Patriot, sein Vaterland seit der Urzeit, fließt nicht in seinen Adern artgemäßes Blut, wird es nicht vom Muß des ursprünglichen Lebens ergriffen, wird sein Walten und Trachten nicht auf der Ursubstanz und Artgebundenheit aufgebaut?

Das gebildete Volkstum. Diese Frage auf Leben und Tod haben die Nationalisten übersehen. Ist sich der deutsche Fortschritt der elementaren Bedeutung der Grenze zwischen dem Animalischen und dem Geistigen bewußt? Man vergleiche die Sehnsucht einer in Afrika überwinternden Schwalbe nach ihrer nordischen Heimat mit den epochalen Taten der griechischen, germanischen, amerikanischen Kolonisten. Es waren loyale Bürger ihres Staates, manchmal seine besten Söhne; vor der Wahl (einer freien Wahl!) stehend, sich für die Freiheit oder für die Heimat zu entscheiden, haben sie kühn die Freiheit gewählt und sich ein neues Heim gegründet; so haben sie den Instinkt mit Hilfe ihrer Vernunft überwunden. Denn der Mensch ist weder an die Scholle noch an seine Sippschaft naturnotwendig gebunden! gerade hierin liegt seine Freiheit begründet! Die Grenze zwischen dem Animalischen und dem Geistigen erhebt sich eben dort, wo die Grenzsteine die Aufschrift tragen: in diesem Königreiche herrscht Vernunft, freie Wahl, das individuelle Gewissen! In diesem Königreiche sind Instinkte, wird die Natur vom freien Menschen beherrscht. Der deutsche Philosoph Kant hat in diesem Sinne die Vernunft und das Gewissen betont; wohl scheint er heute weniger Anhänger im nationalistischen Deutschland zu zählen als der französische Schriftsteller J. J. Rousseau, der die Hochachtung für die Natur und den Haß gegen die Vernunft gepredigt hat – immerhin, Kant hat Recht. Hier liegt der Kern des Problems: das Geistige gehört einer anderen Ebene an a1s das Animalische; das Geistige erhebt immer den Anspruch an einen vernünftigen Inhalt und darauf, wahr, moralisch, nützlich zu sein. Daß es schwer ist, diese Grundtatsache zu begreifen, sehe ich wohl ein; denn es sind bei weitem nicht nur die Nationalsozialisten, die uns die Überzeugung einzuprägen suchen, der Mensch sei nur ein animalisches Wesen; in dieser Sache heißt es aber umzulernen, sonst werden wir den dumpfen Nationalismus niemals los! Wer nur an ein Leben glaubt, das sich nur in einer Ebene entwickelt, wer das Animalische dem Geistigen gleichsetzt und die Bildung für eine bloße Form des Körpers und der Umweltbedingungen erklärt, wer es nicht vermag, sich von Rousseaus Phantasien über den Naturmenschen loszusagen, der kommt folgerichtig auf Nietzsche mit seiner Lehre von der blonden Bestie; der wird sich rühmen, die Kluft zwischen der Natur und dem Gewissen durch die Rassentheorien auf die Ewigkeit verschüttet zu haben – aber umsonst! Auch die alles beherrschende Natur ist in Abgründe zerklüftet, schrecklicher als es die geistigen sind: hier öffnet sich der Abgrund zwischen dem "Herrn" und der "Herde", zwischen dem nordischen Eroberer und dem südlichen Sklaven; und über diese gespenstige Natur wird sich der Naturmensch dem Teufel verschreiben und mit Nietzsche jauchzen müssen: "nichts ist wahr, alles ist erlaubt!"

Es ist kein Vorwurf gegen diese Kritik des Glaubens an den deutschen Urinstinkt, daß sie dem Gebiete der Philosophie angehört: es handelt sich eben um Philosophie! Habe ich nicht in voraus bemerkt, daß ich für Gebildete schreibe?

Fürchten wir uns nicht vor der Philosophie! Das Geistige, zu dem auch Politik, Staat, Nation gehören, wächst niemals aus dem Unterbewußtsein, wie der Pilz aus vermoderter Erde hervor – mag uns dieser Aberglaube auch in einem Chor von Spinoza, Goethe, Schelling, Nietzsche, Bergson, Freud und den Rassentheoretikern als das eigentliche Bekenntnis der Neuzeit eingeprägt werden; die Aufgabe des Geistes liegt nicht in dem Sichbewußtwerden des vermeintlich an sich vorhandenen Wesens der Dinge: der Geist ist seiner eigentlichen Bestimmung nach Herr der Natur und sein Blick ist nach der Zukunft gerichtet, seine Methode ist, Programme für das zu Geschehende zu entwerfen. Das Programm, die Aufgabe, der Plan fällt jedoch nicht unter die Kategorie des Seienden, sondern unter die des Richtigen, Wahren, Gerechten, Praktischen, Moralischen, Nützlichen – lauter Wertschätzungen, die auf die Zukunft, auf etwas, das noch nicht ist, jedoch getan werden soll, hinweisen. Unter Demokratie, Freiheit, Sozialismus verstehen wir im Grunde nicht einen bereits im Keime gegebenen Zustand der Menschheit, der aus dem Schlafe zu erwecken wäre, denn wir wissen, wie unvollkommen die Gesellschaft organisiert ist; solche Thesen bedeuten Richtungslinien, nach denen wir unsere politische Arbeit orientieren wollen; wir berufen uns darauf, daß die Demokratie praktisch, die Freiheit ethisch, der Sozialismus für die Gesellschaft nützlich ist– wir bauen sie auf der Grundlage der ewigen Werte. Demgegenüber hat der Nationalsozialismus in der Zukunft nichts wesentlich neues zu ernten und beruft sich auf die Vergangenheit, die er "retten" oder aus einem unentwickelten Zustand in einen Zustand der Blüte erheben will. Der Leser möge acht geben, wie in den nachfolgenden Worten Hitlers nur eine Ebene, diejenige der Natur, anerkannt wird und wie die Zukunft, unsere einzige Hoffnung, als bloße Sklavin der Vergangenheit aufgefaßt wird. "Demgegenüber erkennt die völkische Weltanschauung die Bedeutung der Menschheit in deren rassischen Urelementen. Sie sieht im Staat prinzipiell nur ein Mittel zum Zweck und faßt als seinen Zweck die Erhaltung des rassischen Daseins der Menschen auf ... Menschliche Kultur und Zivilisation sind auf diesem Erdteil unzertrennlich gebunden an das Vorhandensein des Ariers. Sein Aussterben oder Untergehen wird auf diesem Erdball wieder die dunklen Schleier einer kulturlosen Zeit senken." Sonst haben sich die Menschen an die Gerechtigkeit als das Fundament des Staates, an die Wahrheit, die siegt, berufen; Plato erinnert, in seinen Gesetzen an den von Homer in der Odyssee erzählten Mythos vom Könige Minos, der jedes zehnte Jahr seinen Vater Zeus besucht hat, um nach dessen Rat die Gesetze seines Landes einzurichten; bei Hitler jedoch handelt es sich bloß um die Erhaltung der biologisch gegebenen Eigentümlichkeiten des Menschen, deren bloßer Abglanz die Kultur sein soll. Sollte das die wahre Sendung für den Gebildeten sein?

Der Leser möge diese Bemerkung über Hitler nicht so verstehen, als ob ich behaupten würde, daß das heutige Deutschland nichts anderes tut, als das Ariertum zu retten. In Deutschland geschieht heute viel Vernünftiges; ich möchte namentlich nicht den Eindruck erwecken, als ob ich die Rassenhygiene verurteilen wurde. Wenn aber Grundsätze überhaupt einen Sinn haben, so müssen sie ernst genommen werden und der Grundsatz, daß die Weltanschauung in den rassischen Urelementen begründet ist, bestimmt tatsächlich die heutige reichsdeutsche Politik und er widerspricht dem Glauben an die Macht des Geistes, der Vernunft, der Bildung. Ich schreibe für die Gebildeten; habe ich Recht, mich an den Wert der Bildung zu berufen?

Diejenigen, die da glauben, daß das Deutschtum schlechthin gegeben, dem Deutschen angeboren sei, von ihm instinktiv gefühlt werde, werden von dem Wahne eingeschläfert, es gäbe ein einziges, unwandelbares, ewiges, überall gleiches, allen Deutschen gemeinsames urdeutsches Gefühl, das bereits bei den vorhistorischen Vikingern, den Germanen des Tacitus, bei Karl dem Großen, und in derselben Weise auch bei den heutigen Deutschen wirksam ist, mögen sie in Deutschland, in der Tschechoslowakei oder in Argentinien leben. Inwiefern es ein solches elementares Gefühl gibt, darüber läßt sich nichts Klares aussagen, weil es der Theorie nach unausdrückbar ist; wir können nur von Dingen vernünftig reden, die einen in Worte faßbaren Sinn besitzen. Versteht man also unter dem Deutschtum, was die Deutschen je geglaubt haben, so haben sie zu jeder Zeit ein anderes Programm verfolgt. Vor hundert Jahren nach den napoleonischen Kriegen, erblickte die ganze zivilisierte Welt das Wesen des Deutschtums in der Begeisterung für die Poesie und Metaphysik, in der Abscheu vor der praktischen Politik. Heute wird uns das gerade Gegenteil als das für das Deutschtum Bezeichnende: Tatkraft, Vorliebe für Sport, Politik, empfohlen. Angenommen also, daß die Vaterlandsliebe in der Aufrechterhaltung und Vertiefung des Deutschtums besteht, welches Deutschtum will man retten, dasjenige Kants oder der Romantiker, der Liberalen oder der heutigen Nationalsozialisten?

Vor der Berliner Universität steht das Standbild von zwei der angesehensten deutschen Gelehrten des vorigen Jahrhunderts, W. Humboldt und Herm. Helmholtz. Humboldt, der Begründer der Berliner Universität, war ein Philologe und ein Politiker, Helmholtz ein führender Physiker. Beide waren typische Liberale, also Anhänger einer heute in Deutschland verrufenen Richtung. Helmholtz ging in seinem Liberalismus so weit, daß er Goethe (auf den sich damals die Nationalisten vom Schlage des heutigen O. Spengler berufen haben) bekämpfte und gegenüber dessen mystischer Methode diejenige des Anführers des englischen Liberalismus, J. St. Mill, empfahl. Dieser Mill gilt heutzutage unter den Nationalisten als der Typus eines Individualisten, Pragmatisten, Nominalisten, als die Ausgeburt jener Richtung, gegen die die Nationalsozialisten protestieren. An der Hand dieser liberalistischen Methode hat Helmholtz die deutsche Romantik, die Mutter des Nationalsozialismus, bekämpft. Und doch ist Helmholtz ein typischer, arischer Deutscher! Es handelt sich nicht darum, daß gerade Humboldt oder Helmholtz für das Deutschtum mustergültig seien, sondern darum, daß sich der Inhalt des Deutschtums mit der Zeit verändert und daß es nach seinem Inhalt und nicht nach den angeborenen Eigenschaften beurteilt werden muß. Die Geschichte des Deutschtums besteht nicht in einer Entwicklung der deutschen Rassenseele, nicht in der Vertiefung der Nationalanlagen, sondern stellt eine Aufeinanderfolge von Plänen, Vorschlägen, Konstruktionen dar, die von vernünftigen Menschen entworfen, auf ihre Angemessenheit von jedermann geprüft werden können. Lassen wir die mystischen Anlagen beiseite, wenn wir von Karl dem Großen, Luther, Friedrich dem Großen reden; denken wir lieber darüber nach, was sie geplant, wie sie ihre Taten begründet, wie sie vor dem Richterstuhl des menschlichen Gewissens bestanden haben!

Wenn also ein Deutscher das Wesen des Deutschtums im Gefühl suchen und infolgedessen die Notwendigkeit der Volkstreue, der ungeschwächten Volkskraft betonen und sich auf die deutsche Urgeschichte, auf die rechtlichen Anschauungen der alten Germanen und auf die deutsche Sprache als die wahre Quelle des deutschen Geistes berufen will, so widerspreche nicht, sondern frage: angenommen, daß Du diese Begründung brauchst, was willst du mit Deiner Vaterlandsliebe heute beginnen? Welches soziale, ökonomische, religiöse, pädagogische Ziel schwebt Dir vor den Augen? Bist Du für die Freiheit der armen Leute oder für die Freiheit des Kapitalismus, für die Herrschaft der Kirche oder für die Herrschaft der Wissenschaft, für die Voranstellung der Geschichte und der Philologie in den Schulen oder für die Betonung der Naturgeschichte und der Soziologie – kurz und gut, wie stark vaterländisch willst Du für die Zukunft arbeiten? Und fürchte nicht, daß Du durch solche Frage deinem Deutschtum untreu werden wirst. Wie hat es Nietzsche gesagt? „Von allen Bergen schaue ich aus nach Vater- und Mutterländern. Aber Heimat fand ich nirgends... Fremd sind mir und ein Spott die Gegenwärtigen, zu denen mich jüngst das Herz trieb; und vertrieben bin ich aus Vater- und Mutterländern. So liebe ich allein noch meiner Kinder Land, das unentdeckte, im fernen Meere; nach ihm heiße ich meine Segel suchen und suchen.“