Ein Plädoyer für die kritische Aufarbeitung des deutschen
Erinnerns an die Vertreibung
Werden im künftigen Vertreibungsmuseum Legenden oder historische
Informationen ausgestellt?
Von Eva Hahn und Hans Henning Hahn
In Deutschland – anders als etwa in Polen oder Tschechien – sind die Folgen des
Kalten Krieges für das Erinnern an die Vertreibung bisher in der Öffentlichkeit
noch nicht einmal andiskutiert worden. Deshalb konnten auch die damals aus der
politischen Instrumentalisierung des Erinnerns hervorgegangenen
kulturhistorischen Traditionen noch nicht überwunden werden. Daher wird zu
Beginn des Jahres 2011 in Deutschland noch immer der alte eigenartige Streit
darüber geführt, wie an die Vertreibung erinnert werden soll – und das mehr als
65 Jahre nach Kriegsende. In der Debatte um das Projekt, in Berlin ein
Vertreibungsmuseum zu errichten, geht es nämlich nicht darum, was genau in dem
geplanten Museum ausgestellt werden soll: ob tradierte Legenden, ein in der
Nachkriegszeit entstandener Mythos oder geschichtswissenschaftlich fundierte
Informationen. Die sich seit Jahren hinschleppenden Kontroversen sind nicht
sachlicher geworden, sondern ihrer traditionellen Form treu geblieben.
Dabei pflegen die einen auf Millionen unschuldiger Deutscher hinzuweisen, die
Opfer eines völkerrechtswidrigen Unrechts geworden seien, einschließlich der
Millionen, die dabei ihr Leben verloren haben sollen – wohlgemerkt werden diese
Angaben weder belegt noch präzisiert. Die anderen pflegen windmühlenartig zu
betonen, dass sie das Leid der Vertriebenen beileibe nicht verharmlosen wollten,
dass ihnen aber die eine oder andere rhetorische Formel nicht gefalle. Auf den
ersten Blick mutet es merkwürdig an, warum man in Deutschland so große
Schwierigkeiten hat, sich über ein an unschuldigen Menschen verübtes Unrecht zu
verständigen. Allerdings – bei genauem Hinsehen ist es dann nicht mehr so
unverständlich.
Selbst im Deutschen Bundestag wird zwar darüber debattiert, wie an die
Vertreibung zu erinnern sei, nicht jedoch darüber, was eigentlich geschehen ist,
das erinnert werden solle. Symptomatisch dafür war die Bundestagsdebatte vom 10.
Februar 2011 über die Erhebung des 5. August zum nationalen
Vertreibungsgedenktag:
„Im Antrag würdigen CDU/CSU und FDP die ‚Charta der Heimatvertriebenen‘ vom 5.
August 1950 als ‚wesentlichen Meilenstein auf dem Weg zur Integration und
Aussöhnung‘ und die Verdienste der Vertriebenen aus den ehemaligen deutschen
Ostgebieten nach dem Zweiten Weltkrieg. Außerdem fordern sie die Bundesregierung
auf, den 5. August als möglichen nationalen Gedenktag für die Opfer der
Vertreibung zu prüfen“,
wie die Öffentlichkeit auf der Website des Bundestages informiert wird.
Aber von wem ist hier eigentlich die Rede, wenn an „die Vertriebenen aus den
ehemaligen deutschen Ostgebieten“ erinnert werden solle? Sollen all diejenigen
Vertriebenen ausgeschlossen bleiben, die aus der Tschechoslowakei kamen? Warum
sprach der CDU-Politiker Thomas Strobl von der Notwendigkeit, „in nächster Zeit
die von der Stiftung ‚Flucht, Vertreibung, Versöhnung‘ betreute Dauerausstellung
zur Geschichte der 14 Millionen deutschen und der nichtdeutschen Vertriebenen zu
eröffnen“, während der CSU-Politiker Stefan Mayer an 12 Millionen vertriebene
und drei Millionen dabei angeblich umgekommene Deutsche erinnern möchte?
Auch die inzwischen von Historikern geführte „Debatte
über die Frage, wie die Themen Flucht, Vertreibung und Integration auszustellen
sind“ beschäftigt sich zwar mit allerlei subtilen geschichts- und
bildungspolitischen Fragestellungen, aber zu den unter den Politikern
ungeklärten Fragen, wer eigentlich als Vertriebener erinnert werden solle,
vermag auch sie nicht beizutragen. Dabei geht es doch um das zentrale Problem:
Wie solle an die Vertreibung erinnert werden, wenn nicht die Frage geklärt ist,
wer wo und wann von wem warum vertrieben wurde?
***
Es ist nämlich bis heute überhaupt nicht so ganz klar, wie vielen unschuldigen
Deutschen wo, wann und von wem Unrecht zugefügt wurde. In solchen Fällen, in
denen eindeutig feststeht, welche unschuldige Deutsche Opfer welcher klar
beschriebenen Unrechtshandlungen geworden seien, hat niemand auf der Welt
Schwierigkeiten, die Unschuld der Opfer anzuerkennen und die Täter zu
verurteilen. Probleme entstehen, wenn vage Aussagen über Millionen unschuldiger
deutscher Opfer am Ende des Zweiten Weltkriegs gemacht werden. Gehört ein
Soldat, der sich gerade am brutalen Expansionskrieg – freiwillig oder
unfreiwillig – beteiligt hatte, zu den Unschuldigen? Gehört ein in die Waffen-SS
eingezogener Rumäniendeutscher dazu? Gehört ein als Verwaltungsbeamter in einem
Okkupationsgebiet eingesetzter Vater samt seiner Familie, die sich in dem
fremden Land niedergelassen hatte, dazu? Jene unschuldigen Frauen, Kinder und
alte Menschen, auf die meist als die Vertreibungsopfer hingewiesen wird,
stellten nur einen Teil der Vertriebenen dar. Und sie waren es nicht, die nach
dem Krieg die Geschichten erzählten, das Erinnern prägten oder auf Rache und
Vergeltung verzichteten, wie heute oft insinuiert wird. Sie hatten andere
Sorgen, und unter den führenden Vertriebenenpolitikern waren ohnehin damals
Frauen überhaupt nicht vertreten.
Um welche Unrechtshandlungen handelt es sich eigentlich? Dass manche Deutsche
unmittelbar nach Kriegsende Opfer rechtswidriger Gewalthandlungen in Polen oder
in der Tschechoslowakei geworden sind, wird wohl von niemandem geleugnet. An sie
wird mittlerweile nicht nur in Deutschland, sondern auch überall dort erinnert,
wo sich solche Mißhandlungen abgespielt haben. Wenn man allerdings die Lage der
deutschen Bevölkerung in jenen beiden Staaten mit der der Juden unter dem
NS-Regime vergleicht, kommt man in Schwierigkeiten. Juden sind bekanntlich in
der Tat unschuldige Opfer des NS-Regimes gewesen. Deutsche in Nachkriegspolen
oder in der damaligen Tschechoslowakei sind dagegen als Staatsangehörige des
nationalsozialistischen Großdeutschen Reiches von der Geschichte ihres Staates
in Mitleidenschaft gezogen worden, und das ist eine bedauerliche, aber leider
unvermeidliche Konsequenz eines jeden Krieges. Über 90 Prozent der Vertriebenen
waren Staatsangehörige jenes Reiches, und die anderen gehörten als Volksdeutsche
zur nationalsozialistischen Volksgemeinschaft. Dies galt unabhängig von der
persönlichen Schuld oder Unschuld der Betroffenen.
Deutsche NS-Verfolgte und Widerstandskämpfer erhielten nach dem Kriegsende den
international anerkannten Status wie alle anderen NS-Opfer, unabhängig von ihrer
Nationalität. Deutsche Staatsangehörige sowie Volksdeutsche wurden dagegen
besonderen Maßnahmen ausgesetzt, doch auch sie wurden nirgendwo gleich
behandelt. In eine besonders schwierige Lage gerieten nach dem Kriegsende die
aktiven Träger des NS-Regimes. Das deutsche Reden von unschuldigen Opfern der
Vertreibung verdrängt zum einen die Tatsache, dass sich verschiedene Gruppen
deutscher Bevölkerung bei und nach Kriegsende in höchst unterschiedlichen
Situationen befanden, zum anderen die komplizierten und subtilen Debatten über
die Schuldfragen, die in der Nachkriegszeit überall und namentlich in
Westdeutschland geführt worden sind.
Geht es um die Rolle der NS-Behörden, so wird ihnen im Vertreibungsdiskurs
lediglich vorgeworfen, sie hätten der Bevölkerung zu spät die Flucht erlaubt.
Verschwiegen werden dabei bis heute all jene Verbrechen, die den Nazis
anzulasten sind – sei es bei den seit 1939 durchgeführten ‚Umsiedlungen des
Führers‘, während der Evakuierungen, die im gesamten östlichen Europa vom
NS-Regime organisiert wurden und bei denen die Politik der ‚verbrannten Erde‘
auch die deutsche Bevölkerung betraf, sowie während der Flucht. Dagegen wird an
das von den einstigen Kriegsgegnern verübte Unrecht erinnert. Aber welches
Unrecht?
Die Mißhandlung von Deutschen, namentlich entlang der neuen deutschen Ostgrenze
in Polen und in der Tschechoslowakei, wurde innerhalb weniger Monate weitgehend
unterbunden; dies ging Hand in Hand mit dem allmählichen Aufbau der zuvor von
den NS-Behörden zerstörten staatlichen Verwaltungsstrukturen. Die hier an
Deutschen begangenen Verbrechen wurden zwar nicht alle, aber doch zum Teil nach
der Wiederherstellung der staatlichen Rechtsordnung geahndet. Anders verhält es
sich mit der Frage nach der Rechtmäßigkeit der damaligen Entscheidungen der
alliierten Regierungen. Hier vertrat die Bundesrepublik stets die Ansicht, dass
es sich durchwegs um rechtswidrige Entscheidungen und Handlungen gehandelt habe.
Sie befindet sich dabei in einem Rechtsdissens zum größeren Teil der
Staatengemeinschaft, nach deren Auffassung die damaligen Entscheidungen der
Großmächte geltendes Völkerrecht waren und auch heute noch sind. Dies kommt in
Art. 107 der UN-Charta klar zum Ausdruck. Den deutschen Rechtsstandpunkt den
anderen Staaten aufoktroyieren zu versuchen, wäre wohl chancenlos.
Es bleibt die Frage nach der historischen Verantwortlichkeit für den im Erinnern
an die Vertreibung beklagten Heimatverlust der rund 11 Millionen Deutschen, die
nach dem Ende der 1939-1949 mehr oder weniger kontinuierlich vonstatten gehenden
Massenumsiedlungen von Deutschen im heutigen Deutschland Zuflucht fanden. Hier
ist die Antwort einfach: Für die Leidenserfahrungen und den Heimatverlust
derjenigen, die freiwillig oder unfreiwillig ihre Heimat infolge von
nationalsozialistischen Umsiedlungen und Evakuierungen verlassen haben, trägt
das NS-Regime die Verantwortung, für den Heimatverlust der nach dem Krieg von
den alliierten Regierungen Zwangsumgesiedelten diese Regierungen. Jedes Urteil
über Recht und Unrecht der Verantwortlichen muß berücksichtigen, welche Motive
zu den jeweiligen Entscheidungen führten und wie die jeweiligen Regierungen die
betroffene deutsche Bevölkerung behandelten. Im Falle der freiwilligen Umsiedler
ebenso wie der Flüchtlinge ist die Frage nach der Verantwortlichkeit schwieriger
zu beantworten: Manche verließen ihre Heimat, um dem ‚Ruf des Führers‘ zu
folgen; andere, weil sie nicht ohne ihre Nachbarn zurückbleiben wollten; andere
wiederum flohen aus Angst vor ihnen drohenden Strafmaßnahmen, oder aus Angst vor
der Rache der 1944/45 befreiten Bevölkerung; manche wiederum sind freiwillig
nach Deutschland gezogen, als sie feststellten, wie sich die Lebensbedingungen
in ihrer Heimat infolge des Krieges verändert hatten.
Das Museumsprojekt, das heute diskutiert wird, beruht auf überlieferten
Legenden, die längst überholt sind, und kommt deshalb nicht voran. Anstelle
einer sachlichen und rationalen Diskussion entzünden sich die nutzlosen
Konflikte immer wieder an emotionalen Haltungen. Das kommt dabei heraus, wenn
man gedankenlos Traditionen pflegt, die in einer uns mittlerweile fremd
gewordenen Nachkriegszeit entstanden sind. Die verantwortlichen Politiker
weichen ihren Kritikern aus, indem sie bei immer vageren Phrasen Zuflucht
suchen. Am Ende wird das Museum kaum mehr präsentieren können als ein paar hohle
Geschichtsbilder – damit endlich niemand mehr Anlass zur Kritik findet. Zum
Kennenlernen der leidvollen Schicksale von unschuldigen Deutschen wird es jedoch
nicht beitragen. Geradezu im Gegenteil: Ein solches Museum wird die fortdauernde
historische Desorientierung in der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts
zur Folge haben.