Die geplante Herrschaft über das Gedächtnis der Nation

Ein weiterer Zwischenruf von Hildegard Murjahn


Zu Beginn des neuen Jahres 2010 meldete sich die BdV-Präsidentin Erika Steinbach mit einem neuen Vorstoß auf der politischen Bühne zurück: Sie sei, so erklärte sie, zu einem Verzicht auf den ihr zustehenden Sitz im Rat der Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ bereit, wenn im Gegenzug folgende Forderungen erfüllt würden:


- eine angemessene Berücksichtigung des BdV, der insgesamt 21 Landsmannschaften repräsentiere, im Stiftungsrat,
- die Herauslösung der Stiftung aus der wissenschaftlichen Anbindung an das Deutsche Historische Museum in Berlin,
- die Angliederung des Lastenausgleichsarchivs (LAA), bisher einer in Bayreuth angesiedelten Unterabteilung des Bundesarchivs, an die Stiftung.


Zur Umsetzung dieser Forderungen wäre eine Änderung des zugrunde liegenden Stiftungsgesetzes erforderlich. Während zahlreiche Politiker des In- und Auslandes den Vorstoß von Frau Steinbach als „Erpressungsversuch“ gewertet haben, stellten zahlreiche Politiker der aktuellen Regierungsparteien CDU, CSU und FDP zumindest eine „wohlwollende Prüfung“ dieser Eventualität in Aussicht. Bundeskanzlerin Angela Merkel stimmt in diesen Chor ein: anstatt – gemäß dem Motto „Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende“ – ein Machtwort zu sprechen und ihrer CDU-Parteifreundin Erika Steinbach den 13. Platz im Stiftungsrat zuzuweisen, setzt sie weiter auf Kohlsches „Aussitzen“ und provoziert damit aus einem im Grunde nichtigen Grund eine schwere Krise für das Vertrauen der Bürger in den demokratischen Staat. Nur in Flugzeugen pflegen bekanntermaßen 13. Sitzreihen mit Rücksicht auf abergläubische Vorstellungen gar nicht erst eingebaut zu werden…
Kommentatoren unterschiedlicher Medien haben diesen Konflikt in den vergangenen Tagen bewertet, wobei sich insgesamt ein kritischer Grundton erkennen lässt, sieht man einmal von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung oder dem seit Jahren als unverbrüchlicher Steinbach-Unterstützer bekannten Journalisten der Süddeutschen Zeitung, Thomas Urban, ab. Allerdings wurde bislang kaum die tatsächliche inhaltliche Problematik der neuen Steinbachschen Forderungen angesprochen, was mich zu diesem erneuten „Zwischenruf“ veranlasst.


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In früheren Grundsatzpapieren zum „Zentrum gegen Vertreibungen“ hat Erika Steinbach das United States Holocaust Memorial Museum (USHMM) in Washington DC als konzeptionelles Modell ihrer geplanten Einrichtung angeführt. Diese amerikanische Institution steht auf drei zentralen Säulen: einer großen Ausstellungsfläche (für die Dauerausstellung sowie wechselnde Sonderausstellungen), einen Bereich des Gedenkens („Hall of Remembrance“) sowie einen – dem Normalbesucher zwar offen stehenden, aber zumeist gar nicht präsenten – exzellenten Forschungsbereich mit Bibliothek und Archiv. In letzterem haben die USA neben selbst erhobenen Quellen (Zeitzeugenberichten) Mikrofilmkopien von Archivalien aus unzähligen Archiven und Dokumentationsstätten aus aller Welt gesammelt. Diese Konzentration von Faktenwissen verleiht der Einrichtung am Raoul Wallenberg Place der amerikanischen Hauptstadt eine unglaubliche Machtposition: Das USHMM ist damit – neben Yad Vashem in Jerusalem – zu DER zentralen Einrichtung geworden, in der das Speichergedächtnis der Shoah abgelegt ist und bei Bedarf jederzeit gehoben werden kann.
Ausstellungsflächen sind auch für das „Sichtbare Zeichen“ im Deutschlandhaus in Berlin geplant, und eine „Gedenkrotunde“ sahen schon frühe Planungen für das „Zentrum gegen Vertreibungen“ vor. Auch eine einschlägige Spezialbibliothek dürfte sich angesichts des großen Angebots auf dem Markt bei entsprechender finanzieller Ausstattung relativ rasch zusammenstellen lassen. Für die Kontrolle über die Erinnerung an die „Vertreibung“, die ja nach Ansicht Erika Steinbach ein Bestandteil des nationalen Gedenkens aller Deutschen sein sollte, fehlen aber bisher einschlägige Archivbestände. Würde eine – der Aufsicht der Bundesregierung entzogene – Stiftung ZgV die wertvollen Bestände des Lastenausgleichsarchivs in ihre Hände bekommen, wäre ein sehr wichtiger Schritt in diese Richtung getan. Frau Steinbach wäre ihrem Traum, sich zur Hüterin des nationalen Gedenkens aufzuspielen, wesentlich näher gekommen.


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In einer entscheidenden Diskussionsphase haben im Sommer 2003 zahlreiche prominente Intellektuelle aus Deutschland und aus dem Ausland ein wichtiges Grundsatzpapier unterzeichnet, den „Gerolsteiner Aufruf“. Obwohl dieser Aufruf mehr Unterstützer zählen konnte als etwa die parallele Initiative des SPD-Bundestagsabgeordneten Markus Meckel für ein „Europäisches Zentrum gegen Vertreibungen“, wurde er im politischen Diskurs bisher weitgehend totgeschwiegen, da seine Aussagen offensichtlich weder der damaligen rot-grünen noch der nachfolgenden großen oder der schwarz-gelben Koalition zu Pass kamen. Wie aktuell aber die damaligen Warnungen waren, mögen die zentralen Passagen des Aufrufs belegen, die hier noch einmal in Erinnerung gerufen seien:
„[…] Die Erinnerung der Vertreibung hat ihren legitimen Ort im individuellen Gedenken der Menschen, fest verwurzelt in einer pluralen und kontroversen Erinnerungslandschaft der Bundesrepublik. Bei der aktuellen Forderung geht es aber um etwas anderes: Hier soll ein zentrales Mahnmal entstehen, mitgetragen aus öffentlichen Mitteln und abgesichert durch staatliche Weihen. Ein Zentrum, das ein einheitliches Geschichtsbild etablieren und durchsetzen soll.


Die große Gefahr, die dieses Ansinnen in sich birgt, besteht in einer staatlich sanktionierten Umdeutung der Vergangenheit, ja einer Revision der Geschichte und der Torpedierung eines auf europäischen Dialog angelegten gesellschaftlichen und politischen Diskurses.
Wir sagen es mit aller Deutlichkeit: Ein „Zentrum gegen Vertreibungen“ würde der kritischen Aufarbeitung der Vergangenheit nicht nutzen, könnte aber statt dessen die unterschiedlichen Erfahrungen der europäischen Nationen in Frage stellen und damit die europäische Integration behindern. Mehr noch: Aller mühsam erarbeiteter Fortschritt beim Bau eines gemeinsamen Hauses Europa könnte gefährdet werden.


Dabei sehen wir vor allem zwei Gefahren in historischer und politischer Dimension. Historisch betrachtet droht eine Entkontextualisierung der Vergangenheit, die Negation des ursächlichen Zusammenhangs von NS-Volkstums- und Vernichtungspolitik auf der einen und Flucht und Vertreibung der Deutschen auf der anderen Seite. Die politische Gefahr besteht insbesondere in der Ethnisierung von gesellschaftlichen Konflikten, also der Umdeutung von politischen und sozialen Kontroversen in ethnische – und damit der Zementierung eines völkischen Verständnisses von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.“
Vielleicht sollte man die verfahrene innenpolitische Situation tatsächlich nutzen, um über eine Gesetzesänderung nachzudenken. Und dabei vielleicht über einen kompletten Verzicht auf das in jeder Hinsicht fragwürdige Projekt sinnieren? Denn, Hand aufs Herz: Wer eigentlich will heute außerhalb des BdV noch wirklich ein „Sichtbares Zeichen“, dessen Konturen noch immer sehr verschwommen sind…?