Andreas F. Kelletat (Mainz/Germersheim): Von der Täter- zur Opfernation?

Die Rückkehr des Themas „Flucht und Vertreibung“ in den deutschen Vergangenheitsdiskurs bei Grass und anderen

 

 

zit. aus Triangulum. Germanistisches Jahrbuch für Estland, Lettland und Litauen 2003/2004 Riga 2006), S.132-147

 

Ob die Deutschen über eine kollektive Identität verfügen, weiß ich nicht. Aber nachweisen lässt sich gewiss, dass es immer wieder massive Bemühungen gegeben hat, ihnen eine solche kollektive Identität zu verpassen. Charakteristisch war an diesen Bemühungen in den Jahrzehnten zwischen ca. 1800 und 1945, dass die Deutschen sich als etwas ganz Besonderes betrachten sollten. Dazu wurden gegenüber den Nachbarvölkern kulturelle Abgrenzungen konstruiert, die weit über den trivialen Sachverhalt hinausgriffen, dass die anderen Völker sich halt nicht auf Deutsch sondern in anderen Sprachen verständigen. Über das Beharren der Deutschen, sich als von Natur aus besser als ihre Nachbarn einzuschätzen, klagt u.a. Thomas Mann, im Fitelberg-Kapitel seines Doktor Faustus: Die Deutschen „werden sich mit ihrem Nationalismus, ihrer Unvergleichlichkeitspuschel, ihrem Hass auf Einreihung und Gleichstellung, ihrer Weigerung, sich bei der Welt einführen zu lassen und sich gesellschaftlich anzuschließen, – sie werden sich damit ins Unglück bringen […].“[1]

 

Dass es mit der deutschen „Unvergleichlichkeitspuschel“ endlich vorbei sei, behauptet Helmut Schmidt in einem Gespräch mit der Zeit im April 2004. Auf die Frage, was sich nach 1945 in Deutschland zum Besseren gewendet habe, antwortet der Alt-Bundeskanzler:

 

"Sie sehen, ich muss lange nachdenken. Fast sechzig Jahre sind eine kurze Zeit. Unbedingt positiv ist die Anerkennung der Gleichwertigkeit unserer Nach­barn. Sie macht heute in den Abendnachrichten keine Schlagzeilen mehr, ist aber eine unglaubliche Veränderung in der Grundhaltung des deutschen Vol­kes, vollbracht in den letzten zwei, maximal drei Generationen. Wenn ich an meine Schul- und Jugendzeit zurückdenke oder an die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, wie haben wir uns gegenüber den Franzosen, den Engländern, den Russen und den Polen aufgeführt! Auf allen möglichen Feldern bildeten sich die Deutschen ein, besser zu sein als ihre Nachbarn. Dieses Bewusstsein ist Gott sei Dank verschwunden.[2]"

 

 

Ein kritischer Beobachter deutscher Befindlichkeiten würde vielleicht noch weiter gehen als der Alt-Bundeskanzler: Nicht nur das Überlegenheitsgefühl ist verschwunden, an seine Stelle ist bei vielen Deutschen ein Gefühl moralischer Unterlegenheit getreten, ein negativer Nationalismus, der sich primär aus dem speist, was in Deutschland als „Vergangenheitsbewältigung“ bezeichnet wird. Wobei man den von Thomas Mann bzw. Fitelberg konstatierten „Unvergleichlichkeitspuschel“ auch in jenem negativen Nationalismus wiederentdecken kann: Als unvergleichlich monströs sehen Deutsche auch ihre eigene Schuld, es geht gewissermaßen um eine großdeutsche Großschuld, die wir uns von keinem nehmen lassen, mit keinem teilen wollen.

 

Aber die hohe Zeit des negativen Nationalismus neigt sich in Deutschland ihrem Ende zu. Es sind nicht nur manche 20- oder 25-jährige, die ihre deutsche Identität nicht mehr auf einem Schuldbewusstsein aufbauen wollen. Fast hat man den Eindruck, dass sich der Identitätsdiskurs in Deutschland derzeit aufspaltet. Auf der einen Seite ein immer strikteres, aber auch schablonenhafteres Reden über Schuld und Täternation, auf der anderen Seite ein trotzig-auftrumpfendes Reden über auch von den Deutschen erlittenes Unrecht und Deutschland als Opfernation.

 

„Germany breaks the Hitler taboo“, behauptete Mitte September 2004 der konservative Daily Telegraph und ein englisches Boulevardblatt fragte, ob die Deutschen inzwischen Hitler vergeben wollten. Anlass der Aufregung in der britischen Presse war Bernd Eichingers und Oliver Hirschbiegels Monumentalfilm Der Untergang,[3] der auch in der deutschsprachigen Presse auf „Zeitgeistiges“ abgeklopft wird, darauf, ob hier einmal mehr salvierende Verschiebungen der deutschen Erinnerungskultur inszeniert werden.[4] An Hinweisen auf solche Verschiebungen herrscht in den letzten Jahren kein Mangel, die geschichtspolitischen „Tabubrüche“ scheinen sich zu häufen. Da beschreibt Jörg Friedrich in seinem Buch Der Brand in epischer Breite die Zerstörung deutscher Städte durch alliierte Bombenangriffe,[5] da werden Soldaten der Wehrmacht einmal nicht als Verbrecher vorgeführt sondern z.B. als Retter von Juden,[6] da „verschwindet“ dank der Neuherausgabe der anonym veröffentlichten Tagebuch-Aufzeichnungen Eine Frau in Berlin ein weiterer „blinder Fleck in der deutschen Erinnerung“ durch die „offene Thematisierung der Massenvergewaltigungen [deutscher Frauen] durch russische Armeeangehörige“[7] und da gelingt es den Akteuren der deutschen Bewusstseinsindustrie im Frühjahr 2002, mit der ästhetisch eher bescheidenen Novelle Im Krebsgang des Nobelpreisträgers Günter Grass das bisher angeblich verdrängte Thema „Flucht und Vertreibung der Deutschen aus dem Osten“ ins Zentrum des deutschen Erinnerungsdiskurses zu drücken. Nicht nur werden von dem Werk schon in den ersten zwei Wochen nach Erscheinen 400.000 Exemplare verkauft, nicht nur setzt der Spiegel am 04.02.2002 den „neuen Grass“ und die „verdrängte Tragödie des Flüchtlingsschiffes Wilhelm Gustloff unter der reißerischen Überschrift Die deutsche Titanic auf sein Titelblatt, drei Wochen später lässt das Leitmedium deutscher Identitätsdebatten eine ganze Serie über die „Vertreibung der Deutschen aus dem Osten“ folgen[8] und rasch ziehen die großen Fernsehanstalten mit Dokumentationen nach und den unvermeidlichen „Zeitzeugen“ aus dem „ZDF-Jahrhundertbus“ des Mattscheiben-Historikers Guido Knopp. „Die Vertreibung,“ schreibt Wolfgang Büscher am 5. Februar 2002 in der konservativen Welt, „war eines der größten Tabus der Nachkriegsgeschichte, streng bewacht von Linken wie Günter Grass. Nun bringt ausgerechnet er das Thema mit einer Novelle zurück ins kollektive Bewusstsein – wird Deutschland normal?“[9] Auch bei den Romanschreibern scheint Grassens „Tabubruch“ Wirkung zu zeigen, in dichter Folge sind weitere Werke erschienen, die von Flucht und Vertreibung und ihren lang­dauernden Folgen handeln: Tanja Dückers Himmelskörper (2003), Reinhard Jirgls Die Unvollendeten (2003), Christoph Heins Landnahme (2004).

 

Wie soll man diese Revisionen des Geschichte-Erzählens verstehen? Geht es um ein Sich-Wehren persönlichen Erinnerns der wegsterbenden Erlebnisgeneration gegen die offizielle Schuld-, Verantwortungs- und Vergangenheitsbewältigungs­deklamatorik? Geht es um noch genauere Erkenntnis, wohin Hitler und seine Leute auch ihr eigenes Volk (und nicht nur ihre Nachbarvölker) geführt haben – ins Verderben? Oder muss man das Berliner Holocaust-Mahnmal sowie die Vertreibungs-, Vergewaltigungs- und Luftkriegsdebatten zusammendenken mit der Rekonstruktion der Dresdner Frauenkirche und demnächst vielleicht des Berliner Schlosses sowie der Gründung des Essener Zentrums für Erinnerungsforschung Ende September 2004[10] – und all das wäre als deutsche Flucht in die Vergangenheit zu deuten, eine Flucht, die in auffälligem Kontrast stünde zu den Ängsten vieler Deutscher vor ihrer Zukunft? Solche Befindlichkeits-Rätsel vermag ich nicht zu lösen, da müssen großräumigere Denker und Interpreten ans Werk.

 

Aber in der – durch Grassens Novelle und ihre Rezeption massiv beförderten – Erinnerung an Flucht und Vertreibung sind einige Sonderbarkeiten auffällig, die ich kurz ansprechen möchte. Abwegig etwa erscheint mir die von Grass schon im Oktober 2000 in einer Rede im litauischen Vilnius aufgestellte Behauptung, dass „die Vertreibung, das Flüchtlingselend von zwölf Millionen Ostdeutschen, […] nur Thema im Hintergrund“ gewesen sei, dass „ein Unrecht das andere verdrängt“ und dass es sich „verboten“ habe, „das eine mit dem anderen zu vergleichen oder gar aufzurechnen.“[11] Das Vergleichs- und Aufrechnungsverbot galt in den 70er, 80er und 90er Jahren. Von 1945 bis zum Jerusalemer Eichmann- und Frankfurter Auschwitz-Prozess in den 60er Jahren konnten fundiertere Vergleiche gar nicht angestellt werden, da man sich damals in Deutschland mit den eigenen Verbrechen, dem Zivilisationsbruch in der eigenen Kultur und Gesellschaft, kaum befasste.[12] Gewiss ahnten und wussten die Deutschen, dass sie besonders im Osten Grauenhaftestes angerichtet hatten, aber lauthals erinnert und regierungsamtlich wissenschaftlich erforscht und zwecks Abwehr allfälliger Reparationsforderungen penibel dokumentiert wurde nur das Leid der eigenen Leute.[13] Das galt für die Wissenschaft, die Politik wie die Literatur Westdeutschlands. Ostpreußen heißt ein Gedicht, das Agnes Miegel (die Lieblingsdichterin der organisierten Vertriebenen aus dieser Provinz) 1949 in ihrem Band Du aber bleibst in mir. Flüchtlingsgedichte veröffentlicht hat:

 

Immer Krieg und Blut und Blut und Brand,

Immer Grenzernot und Tränen, -

Und doch geht, o Heimatland,

Zu Dir Deiner Kinder Sehnen!

 

Immer trug durch unsern Schweiß

Karger Acker goldne Ähren,

Immer türmte unser Fleiß

Damm, um Flut und Feind zu wehren, -

 

Immer hat nach Leid und Qual

Deutscher Mund aus Dir gesungen, -

Mutter, nun zum erstenmal

Ist dort unser Lied verklungen!

 

Ungezähmte Urgewalt

Überspülte Deine Fluren,

Und des Siegers Fremdgestalt

Längst verwischte unsre Spuren.

 

Mutter, nur im Traum geschaut

Von den Heim- und Heimatlosen, –

Ach, nicht lieb und hold vertraut

Bist du jenen, die nun kamen,

Und mit unsrer Sprache Laut,

Ordensland, verhallt Dein Namen

Für die Welt, die uns verstoßen!

 

Das ist der nationale Opfermythos, wie er in der Bundesrepublik nicht nur von den Vertriebenenverbänden durch viele Jahre gepflegt wurde, gepflegt werden konnte, auch weil die einstigen Kriegsgegner im Westen dieses halbe Deutschland als Verbündeten im Kalten Krieg brauchten. Als Sturmflut, als grauenhaftes Naturereignis, für das natürlich kein Mensch, nicht einmal ein Hitler, verantwortlich gemacht werden kann, wird der Heimatverlust von Miegel ins Bild gesetzt. Dieser Linie folgt Edwin Erich Dwingers Beschreibung des „Untergangs Ostpreußens“, die 1950 unter dem Titel Wenn die Dämme brechen erschienen ist. „Die Dämme brechen,“ hieß es in einer zeitgenössischen Besprechung der Westdeutschen Allgemeinen, „angesichts der Unmenschlichkeit des Ostens und der Unfähigkeit des Westens, der leichtfertig und kurzsichtig einen Teil des Abendlandes den Asiaten auslieferte.“ Dwingers sehr erfolgreiches Buch wurde als „erster Versuch zur Ehrenrettung des deutschen Volkes gegenüber einer noch immer unverstehenden Umwelt“ angepriesen und solches Lob mündete in die trotzig formulierte Bilanz: „Wenn das deutsche Volk jemals eine Schuld hatte – sie wurde schon damals im Osten vielfach bezahlt.“[14] Worin die Schuld des deutschen Volkes konkret bestanden haben könnte, danach wurde durch Jahrzehnte aber gar nicht gefragt, fest stand nur eins: wir Deutschen haben die größeren Opfer bringen, die schlimmeren Leiden ertragen müssen. Und diese Selbstviktimisierung war kein Hintergrundgeräusch, sondern so tönte es im Zentrum der westdeutschen Gesellschaft. Konrad Adenauers Frage vom Oktober 1950, „ob in der Geschichte jemals mit einer solchen Herzlosigkeit ein Verdikt des Elends und des Unglücks über Millionen von Menschen gefällt worden“ sei, bezog sich nicht auf die europäischen Juden und die anderen nicht erst mit dem berüchtigten „Generalplan Ost“ in Angriff genommenen Völkermorde und Völkerverschiebungen, sondern auf seine Deutschen.[15]

 

Dass das Klagen der Vertriebenen ab den 70er Jahren nur noch im Hintergrund zu vernehmen war, trifft zu. Die Mehrheit der Westdeutschen wollte um 1970 die Aussöhnung mit Polen. Man folgte der Überlegung, dass das von den Vertriebenen beschworene „Menschenrecht auf Heimat“ und das „Recht auf Rückkehr“ nicht mehr dadurch eingelöst werden kann, indem man nun jenen Polen die Heimat wieder nimmt, die sie nach 1945 in den deutschen Ostgebieten gefunden hatten. Widerstreitenden Rechtsansprüchen wurde das Verständigungsgebot übergeordnet – und es ist eine Ironie der Geschichte, dass ausgerechnet durch die Überwindung der Spaltung Europas, durch den Beitritt Polens und anderer mitteleuropäischer Länder zur Europäischen Union, heute die Gefahr besteht, dass der auf dem Völkerrecht beruhende Rechtsfrieden zwischen Deutschland und seinen östlichen Nachbarn durch die Hintertür eines europäischen Zivilrechts ausgehebelt werden könnte.

 

Ab Mitte der 60er Jahre begann in der ehemaligen Bundesrepublik – analog zur Marginalisierung der Vertreibungsgeschichten – eine neue „offiziöse“ Sicht auf die eigene Vergangenheit zu dominieren, eine Sicht, die das eigene Volk schließlich nur noch als Täternation sehen mochte. Es wurde vor allem von der 68er Generation ein negativer Nationalismus propagiert, der zuletzt noch die medialen Triumphe eines Daniel Goldhagen in der deutschen Öffentlichkeit ermöglichte.[16] Deutsche als Opfer – das wurde im Zentrum der Geschichtsdiskurse zu einem Tabuthema, die Erinnerung an Flucht und Vertreibung, an das Schicksal der Kriegsgefangenen, an die Opfer der Bombardierungen deutscher Städte (aber auch an den Widerstand mancher Deutscher gegen Hitler!) geriet in ein mitunter fast sektiererisches Abseits.[17] „Niemals,“ heißt es in einer von fast allen Kritikern zitierten Krebsgang-Passage, „hätte man über so viel Leid, nur weil die eigene Schuld übermächtig und bekennende Reue in all den Jahren vordringlich gewesen sei, schweigen, das gemiedene Thema den Rechtsgestrickten überlassen dürfen. Dieses Versäumnis sei bodenlos ...“ So Günter Grass’ Alter Ego im Krebsgang des Jahres 2002. Sehr originell ist dieser Gedanke, der die ganze Erzählkonstruktion der Novelle ideologisch zu tragen hat, allerdings nicht. Schon zehn Jahre zuvor hat ihn Heiner Müller in seiner Autobiographie Krieg ohne Schlacht ausgesprochen:

 

"Das Potiential der Rechten ist verstärkt worden durch ein Versäumnis der Literatur. Weiße Flecken werden in unserem Klima schneller braun als rot […] Der Zweite Weltkrieg war auch eine deutsche Tragödie. Das Tempo der linken Verdrängung stand in beiden Nachkriegsdeutschland dem der rechten nicht nach. Ich kenne keinen bedeutenden Roman, in dem die Trecks ein Thema sind, nur Dokumente und Berichte, oder die Schrecken der Befreiung. Das Tempo des Vergessens schafft ein Vakuum. Die westdeutsche Linke hat sich an Auschwitz erinnert, nicht an Stalingrad, eine Tragödie von zwei Völkern, dann kam als nächstes der Vietnam-Krieg. Im Osten war die Unschuld Staatsräson, ein Volk von Antifaschisten. Dabei waren die Trecks eine Völkerwanderung von ungeheuren Dimensionen. Diese, wie immer du es nennen willst, Vertreibung, Flucht, Umsiedlung – ein ungeheurer Einschnitt in europäische Geschichte. Aber das kommt nicht vor in der deutschen Nachkriegsliteratur, nur bei Konsalik, nur in der Trivialliteratur.[18]"

 

Ob weiße Flecken, wie Heiner Müller 1992 und Günter Grass 2002 behauptet haben, in Deutschland tatsächlich „schneller braun als rot“ werden, mag dahingestellt bleiben. Aber belegen lässt sich, dass im rechten Meinungsspektrum besonders massiv versucht wird, die Deutschen als Opfer darzustellen. Und um das mit diesem Opferstatus offenkundig verbundene symbolische Kapital[19] möglichst kräftig wachsen zu lassen, wird in diesem Milieu bewusst die für die Beschreibung des Holocaust entwickelte Semantik gekapert.[20] Auf einer Internet-Seite der sog. Konservativen Informationsbasis eines Rolf-Josef Eibicht kann man z.B. derzeit lesen:

 

"In zorniger Trauer verneigen wir uns vor den Millionen Opfern des Völkermordes, des verschwiegenen Holocaust am deutschen Volk, der von seinen Feinden beabsichtigten und erhofften Endlösung der deutschen Frage in Ost-, Südost- und Mittelosteuropa.[21]"

 

Und dann geht es zwölf eng beschriebene Seiten lang über das „Jahrtausendverbrechen“ des „Vertreibungsholocaust“. Nicht weniger dreist ist der Rekurs auf den Holocaust in den Verlautbarungen der Preußischen Treuhand bzw. der Prussian Claims Society, die mit viel Tamtam Eigentumsansprüche von Vertriebenen gegenüber Polen und der Tschechischen Republik durch Privatklagen durchsetzen will und damit heftigste Klimaverschlechterungen im polnisch-deutschen Verhältnis bewirkt hat.[22] Nicht nur der englische Name der Organisation signalisiert eine Analogie mit den Holocaust-Opfern, sie wird sogar explizit hergestellt:

 

Man kann sich am Beispiel der Restitution jüdischen Eigentums orientieren. So kümmert sich die jüdische Dachorganisation „Jewish Claims Conference“ um das von den Nationalsozialisten enteignete Eigentum insbesondere in den Fällen, in denen eine persönliche individuelle Wahrnehmung der Eigentumsinteressen nicht möglich ist. Entsprechend soll eine Selbst­hilfe­organisation von Vertriebenen für deutsches Vermögen in den Vertrei­bungsgebieten die individuellen privaten Vermögensansprüche gegenüber den Vertreibungsstaaten als bevollmächtigte Interessenvertretung wahrnehmen.[23]

 

Polen als „Vertreibungsstaat“ zu titulieren, das ist neben den Holocaust-Parallelen ebenfalls ein bemerkenswerter neudeutscher Zungenschlag. Irritierende Anleihen bei der Holocaust-Semantik sind – und das wohl nicht ganz zu Unrecht – auch Jörg Friedrichs Brand-Buch vorgehalten worden, etwa wenn er Luftschutzräume als „Krematorien“ bezeichnet, Bombenopfer als „Ausgerottete“, eine britische Bomberstaffel als „Einsatzgruppe“ oder wenn er davon spricht, „dass die Nazis zwar keine Mittel hatten, die Städtevernichtung abzuwehren, aber ‚dennoch eines, jemanden dafür büßen zu lassen’, die Juden nämlich. Keine Reflexionen des Autors hindern den Leser an dem Schluss, die Royal Air Force sei zumindest mitschuldig an Auschwitz.“[24]

 

Die subtilste Form der Holocaustisierung des Flucht-und-Vertreibungs-Diskurses findet sich bei der CDU-Bundestagsabgeordneten und Präsidentin des Bundes der Vertriebenen, Erika Steinbach.[25] Am 8. Mai 2000 forderte sie im Hauptorgan des deutschen Bildungsbürgertums, der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, dass der „8. Mai ein Tag des vollständigen Erinnerns sein (sollte)“, wozu dann vor allem die Erkenntnis gehöre, dass mit dem 8. Mai 1945 „Unmenschlichkeit und Gewalt in Europa“ nicht aufgehört hätten. Dass an die Stelle der verfolgten Juden nunmehr die Deutschen im Osten gerückt seien, sagt Erika Steinbach allerdings nicht. Sie lässt es sagen. Und das natürlich von einem Juden, von H.G. Adler, der in seinem großen Werk Theresienstadt 1941-1945 berichtet hatte:

 

Die Befreiung von Theresienstadt hat das Elend an diesem Ort nicht beendet. Nein, nicht allein für die ehemaligen Gefangenen, deren Leid mit dem Wiedergewinn der äußeren Freiheit gewiss nicht abgeschlossen war, sondern auch für neue Gefangene, deren Elend jetzt erst begann. In der „kleine[n] Festung“ wurden Deutsche des Landes und reichsdeutsche Flüchtlinge eingeliefert. Bestimmt gab es unter ihnen welche, die sich während der Besatzungsjahre manches hatten zu Schulden kommen lassen, aber die Mehrzahl, darunter viele Kinder und Halbwüchsige, wurde bloß eingesperrt, weil sie Deutsche waren. Nur weil sie Deutsche waren... Der Satz klingt erschreckend bekannt; man hatte bloß das Wort „Juden“ mit „Deutschen“ vertauscht. Die Fetzen, in die man die Deutschen hüllte, waren mit Hakenkreuzen beschmiert. Die Menschen wurden elend ernährt, misshandelt, und es ist ihnen um nichts besser ergangen, als man es von deutschen Konzen­trationslagern her gewohnt war […][26]

 

Erika Steinbach setzt Juden und Sudetendeutsche[27] nicht gleich, sie kennt die Spielregeln der politisch korrekten Rede. Sie zitiert in ihrem FAZ-Text zum 8. Mai 2000 lediglich einen Juden, der diese Gleichsetzung kurz nach dem Krieg[28] vorgenommen und sogar selbst in Theresienstadt und Auschwitz und Buchenwald schlimmste Jahre durchlitten hat. Solch geschickte Zitat-Technik wirkte allerdings weniger anstößig, wenn sich Steinbachs Bund der Vertriebenen und all die anderen Institutionen und Publikationen aus diesem Umfeld auch sonst schon einmal mit Adlers Theresienstadtbuch und den europäischen Juden befasst hätten – jener Juden zumindest, die bis 1933, bis 1938 oder gar bis in die 40er Jahre die eigenen Nachbarn waren, in Königsberg, in Danzig, in Breslau oder in den Orten des Sudetengebiets.

 

Nicht nur die organisierten Vertriebenen haben es durch Jahrzehnte versäumt, ihrer verschwundenen jüdischen Nachbarn zu gedenken, der ersten Heimatvertriebenen der Nazi-Jahre.[29] Schon gar nicht haben sie sich mit jenen ungeheuren Völkermord-, Vertreibungs- und Umsiedlungsplänen befasst, die Hitlers Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums, Heinrich Himmler also, ab September 1939 in die Praxis umsetzte. Auch in dem aktuellen vielstimmigen Flucht- und Vertreibungsdiskurs findet man kaum Hinweise z.B. auf jene ca. 13.000 Häftlinge, die Ende Januar 1945, in den Tagen der Gustloff-Tragödie, aus dem ostpreußischen Konzentrationslager Stutthof bei Danzig auf ihren „Todesmarsch“ getrieben wurden, oder auf jene Viehboote, auf denen noch Ende April 1945 die letzten ca. 4000 Stutthof-Häftlinge über die Ostsee nach Westen verschleppt wurden, von denen aber nur 1000 die Lübecker Bucht erreichten: „Einge Boote waren unterwegs verloren gegangen, sei es durch Fliegerangriffe, sei es auf andere Weise. In Saßnitz z.B. versenkten die Wachmannschaften selbst eines der Boote. Viele Insassen waren unterwegs verhungert oder zugrunde gegangen, ihre Leichen über Bord geworfen worden.“[30]

 

„Wir werden euch vor den Russen retten und euch mitnehmen,“ soll der Kommandant Göcke Anfang Juli 1944, drei Wochen vor Eintreffen der Roten Armee, im litauischen Kaunas zu den „ungefähr 1500 Leuten aus dem Ghetto“ gesagt haben, die dann auf Boote verladen und die Memel stromabwärts transportiert wurden. „Nach Danzig hieß es allgemein. Die Barken waren noch in Georgenburg [Jurbarkas, afk] gesehen worden. Später erfuhr man, dass die Barken acht Tage unterwegs gewesen waren, ehe sie an ihrem Bestimmungsort Stutthof ankamen. Einige Tage später ein zweiter Transport, auch auf dem Flusse.“[31]

 

Für viele Stutthofer und andere KZ-Häftlinge endete das Martyrium am 3. Mai 1945 in der Lübecker Bucht, als die Schiffe „Cap Arcona“, „Thielbek“, „Athen“ und „Stutthof“ von britischen Jagdbombern versenkt wurden – 7300 Häftlinge kamen dabei ums Leben. Uwe Johnson hat vor über 30 Jahren im dritten Band seiner Jahrestage den Untergang der vier schwimmenden Konzentrationslager beschrieben – bis an die Grenzen des Erträglichen.[32]

 

"Für 1325 Passagiere und 380 Mann war die Cap Arcona eingerichtet; jetzt [am 3. Mai 1945] hatte sie allein 4600 Häftlinge im Bauch, ganz unten die Kranken, ohne Medikamente und Verbandszeug, die russischen Häftlinge im Bananenbunker, ohne Licht, ohne Luft und die ersten drei Tage lang ohne Essen; die Toten wurden auf dem Deck gestapelt. Das Schiff stank nach den Toten, nach der Krankheit und dem Kot der Lebenden; ein Faultopf, unbeweglich obendrein. Denn auch die Cap Arcona war nicht seetüchtig, ihr fehlte der Brennstoff. Zu essen gab es kaum für die Häftlinge, sogar Trinkwasser wurde ihnen vorenthalten, aber Appell am Morgen mit Abzählen und Abhaken musste sein. Das Sterben ging hier langsamer als im Gas, aber der Tag war vorauszusehen, an dem alle tot sein würden. Dann kam die Freiheit. Die Freiheit kam am 3. Mai über die sonnenklare Bucht und war eine Staffel britischer Bomber […] Die Deutschen verteidigten ihre Häftlinge mit Flakfeuer, nach dem dritten Treffer hissten sie eine weiße Fahne […] Inzwischen war das Sterben rasch gegangen, auch vielfältig. Sterben konnten die Häftlinge im Feuer, im Rauch […], an den Bordwaffen der deutschen Besatzung (die Besatzung hatte Schwimmwesten), eingeklemmt von gehorteten Lebensmitteln, eingequetscht im panischen Gedränge, an der Hitze der ausglühenden Cap Arcona, an den abstürzenden Rettungsbooten, am Sprung ins Wasser, im Wasser an der Kälte, an den Schlägen und Schüssen von den deutschen Minensuchbooten und an Land an der Erschöpfung. Gerettet wurden 3100 Menschen. Umgekommen war eine Zahl Menschen zwischen sieben und achttausend. […] Die Toten trieben an alle Ufer der Lübecker Bucht […] Sie ließen sich finden fast jeden Tag."

 

Würden diese und ähnliche Flucht-und-Vertreibungstode stets mit erinnert, wenn von den Flüchtlingen und Vertriebenen aus dem Osten im Frühjahr 1945 die Rede ist, so könnte man vielleicht wirklich von einer „Normalisierung“ der Erinnerungsdiskurse sprechen. Nun aber hat es oft eher den Anschein, als kehrten die Deutschen – ermuntert ausgerechnet von Günter Grass – zum Selbstmitleid der ersten Nachkriegsjahrzehnte zurück.[33] Für dieses neue deutsche Selbstmitleid hat Péter Esterházy in seiner Frankfurter Friedenspreisrede am 10. Oktober 2004 auch jene „europäische Gewohnheit“ verantwortlich gemacht, die „eigenen Missetaten durch die deutschen Missetaten zu verdecken“:

 

"Die deutsche Nationalerinnerung […] nennt die eigene Verantwortung beim Namen. Da sie aber die Verantwortung anderer nicht nennen kann (sobald sie das versucht, wird sie auf hysterisches Misstrauen stoßen) und weil wir, die anderen, die eigene Verantwortung nicht benennen – wirft diese offensichtliche Ungerechtigkeit das deutsche Selbstmitleid an. Was vereint sein sollte, zerfällt in Selbsthass und Selbstmitleid, neben der Unwahrheit des Nur-Mörders steht die Unwahrheit des Nur-Opfers – und hinter diesen beiden Dingen das ungeklärte „wir“, die ungeklärte Nationalerinnerung. Dieses nicht Geklärte sehnt sich dann ebenfalls hysterisch nach einer „Normalität“. [34]"

 

Deutsche nur als Opfer, Deutsche nur als Täter, Deutsche sowohl als Täter wie auch als Opfer – in solch dialektischem Dreisprung mag sich der deutsche Vergangenheitsdiskurs über Flucht und Vertreibung bewegen. Von einer – in der Publizistik oft propagierten – Europäisierung dieses Diskurses sind wir nicht nur in Deutschland weit entfernt. Eine solche Europäisierung setzte u.a. voraus, dass die Deutschen auch unbequeme Stimmen ihrer östlichen Nachbarn ernsthafter prüften, die z.B. sagen, dass die Vertreibung der Deutschen aus den Staaten Ostmitteleuropas 1945 der einzig gangbare Weg gewesen sei, um nach den Erfahrungen der ersten Jahrhunderthälfte eine stabile Friedensordnung für Europa zu erreichen. Wie hätte eine solche Ordnung entstehen können, wenn nach 1945 in Polen, in der Tschechoslowakei, in Ungarn usw. nach Millionen zählende deutsche Minderheiten verblieben wären? Und wäre es für die 13 oder 15 Millionen vertriebenen Deutschen wirklich glücklicher gewesen, wenn sie und ihre Kinder und ihre Enkel von 1945 bis 1989/91 im kommunistischen Machtbereich hätten leben müssen, womöglich in einer stalinschen Sowjetregion mit Namen „Autonomes deutsches Gebiet Kaliningrad“? Müssten nicht zumindest die nach Westdeutschland entronnenen Vertriebenen bei allem erlittenen Leid doch am Ende froh sein, dass sie – Pardon: dank Flucht und Vertreibung – in der weitaus angenehmeren Hälfte Europas angekommen waren und sich eine neue Existenz in einem demokratisch und immer wohlhabender werdenden Deutschland aufbauen konnten? Viele Polen, die nach 1945 in die Höfe, Häuser und Wohnungen der geflohenen, vertriebenen, umgesiedelten Ostpreußen einziehen mussten, wären wohl lieber noch ein Stückchen weiter gen Westen gezogen – am liebsten bis England oder Amerika. Haben nicht all die von Deutschland so schändlich behandelten Völker im östlichen Teil Europas einen sehr viel höheren Preis für den Sieg der Alliierten zahlen müssen, als die besiegten Deutschen, die Westdeutschen zumindest?[35]

 

Auch wenn es zynisch klingt: die in unseren Vergangenheitsdiskursen häufig zitierte larmoyante Phrase vom Wind und Sturm müsste man mit Blick auf die gesamteuropäische Bilanz des „Jahrhunderts der Vertreibungen“ umkehren: Nicht Wind haben die Deutschen gesät und Sturm geerntet, sie haben Sturm gesät und Wind geerntet. Dass uns nach bald 60 Jahren Frieden in Ostmitteleuropa auch dieser Wind im Rückblick wie ein apokalyptischer Sturm erscheint, sollte zumindest ahnen lassen, wie schrecklich der vorangegangene Sturm gewesen sein muss.

 


 


[1] Thomas Mann: Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn erzählt von einem Freunde [1947]. Frankfurt/M. 1980, S.546.

[2] Die Zeit, Nr.18, 22.04.2004, S.66

[3] Vgl. Joachim Güntner: Der Blick der Kammerdiener. Aufregung um den neuen Hitler-Film Der Untergang. In: Neue Zürcher Zeitung, 17.09.2004. Vgl. auch Lars-Olav Beiers und Ruth Reichsteins Artikel Dicker als Fondue über die Reaktionen der ausländischen Presse auf den Untergang in: Der Spiegel, Nr.40 / 2004, S.158; zu Reaktionen in Polen vgl. Thomas Urban: Der Mann aus Charme. Hitler bleibt Hitler. Wie Polen auf den Untergang reagiert. In: Süddeutsche Zeitung, 08.11.2004.

[4] Als irritierend wurde in ersten Reaktionen (soweit diese nicht völlig positiv ausfielen wie etwa bei Ex-Bundeskanzler Kohl) die „Vermenschlichung“ Hitlers im Untergang empfunden. In der Tat: „Das da hätt einmal fast die Welt regiert. / Die Völker wurden seiner Herr. Jedoch / Ich wollte, daß ihr nicht schon triumphiert: / Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch“ – heißt das letzte Epigramm in Brecht Kriegsfibel. Aus Brechts „das da“ ist mit dem Untergang wieder ein „der da“ geworden. Die fundierteste Kritik am Untergang formulierten allerdings weder Politiker noch Historiker noch Kulturwissenschaftler, sondern der Regisseur Wim Wenders: Tja, dann wollen wir mal. Warum darf man Hitler in Der Untergang nicht sterben sehen? Kritische Anmerkungen zu einem Film ohne Haltung. In: Die Zeit, 21.10.2004. – Bemerkenswert ferner Thomas Holls Artikel: „Als Hitler mir die Hand schüttelte.“ Ein Rechtsextremist als Komparse im Führerbunker des Untergangs. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 02.10.2004, in dem Karl Richter über das Hitler-Bild im Untergang sagt: „Herausgekommen ist ein Mensch von Fleisch und Blut. Mit Stärken und Schwächen. Abstoßend und anziehend bis zur letzten Stunde, in der er selbst zum Opfer wird.“

[5] Vgl. Lothar Kettenacker (Hrsg.): Ein Volk von Opfern? Die neue Debatte um den Bombenkrieg 1940-45. Berlin 2003.

[6] Vgl. Wilm Hosenfeld: „Ich versuche jeden zu retten“. Das Leben eines deutschen Offiziers in Briefen und Tagebüchern. Hrsg. Von Thomas Vogel. München 2004. – Über einen vergleichbaren Fall berichtet Almut Hielscher: Die Pflicht des Majors. Holocaust-Überlebende haben die Spur eines Wehrmachtsoffiziers verfolgt, der im Zweiten Weltkrieg Hunderte von Juden gerettet hat – ähnlich wie Oskar Schindler. In: Der Spiegel, Nr.8 / 2001, S.64-66.

[7] So Claudia Schwarz in der Neuen Zürcher Zeitung vom 20.08.2003, zit. nach perlentaucher.de/buch/13785.html (aufgerufen am 25.09.2004); vgl. Birgit Dahlke: „Frau komm!“ Vergewaltigungen 1945 – zur Geschichte eines Diskurses. In: Birgit Dahlke u.a. (Hrsg.): LiteraturGesellschaft DDR. Kanonkämpfe und ihre Geschichte(n). Stuttgart, Weimar 2000, S.275-311.

[8] Die Spiegel-Serie mündet in das Buch von Stefan Aust und Stephan Burgdorff (Hrsg.): Die Flucht. Über die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten. Stuttgart, München 2002.

[9] Peter Schneider, der 1973 mit der Erzählung Lenz einen der Schlüsseltexte der Studentenbewegung veröffentlicht hat, äußert sich sehr selbstkritisch zum Umgang der westdeutschen Linken mit dem Thema Flucht und Vertreibung in: Alles reimt sich auf Faschist. Günter Grass, ’68 und die Vertriebenen. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26.03.2002.

[10] Vgl. Joachim Güntner: Wie erinnern wir? Ein Institut für Gedächtnisforschung. In: Neue Zürcher Zeitung, 29.09.2004.

[11] Günter Grass u.a.: Die Zukunft der Erinnerung. Hrsg. Von Martin Wälde. Göttingen 2001, S. 32 f.

[12] Vgl. zum Gesamtkomplex der sog. Vergangenheitsbewältigung die bisher viel zu wenig beachtete umfassende diskursanalytische Darstellung von Klaus von Schilling: Scheitern an der Vergangenheit. Das deutsche Selbstverständnis zwischen Re-Education und Berliner Republik. Berlin, Wien 2002.

[13] In den 50er Jahren entstand im Auftrag der deutschen Bundesregierung die achtbändige Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa, hrsg. vom Bundesministerium für Vertriebene, bearbeitet in Verbindung mit Adolf Diestelkamp, Rudolf Laun, Peter Rassow und Hans Rothfels von Theodor Schieder. Einen unveränderten Nachdruck der 1954-1961 erschienenen Bände veröffentlichte 1984 der Deutsche Taschenbuch Verlag, München. Ein analoges Standardwerk zu den nach 1939 von Deutschen vertriebenen und ermordeten Ostmitteleuropäern wurde weder in den 50er Jahren noch später erarbeitet. – Auf die nationalsozialistische Herkunft einzelner Mitarbeiter der Dokumentation und den zweifelhaften Wert der in den 50er Jahren entstandenen „Zeitzeugeninterviews“ macht Ingo Haar aufmerksam: Morden für die Karriere, Eine skandalöse Quelle im geplanten Zentrum gegen Vertreibung [sic!]. In: Süddeutsche Zeitung, 17.01.2005.

[14] Die Zitate aus Rezensionen und Verlagswerbung nach dem Klappentext der Ausgabe: Wenn die Dämme brechen... Untergang Ostpreußens. 33.-42. Tsd. Freiburg i.Br., Frankfurt/M.: Dirkreiter Verlagsgesellschaft 1950. Die in der Ostpreußen-Literatur (auch schon der Zwischenkriegszeit) so beliebte anti-östliche (antislavische, antipolnische, antirussische usw.) Flut-, Damm- und Bollwerk-Metaphorik dürfte auf einen Aufsatz des jungen Heinrich von Treitschke zurückgehen: Das deutsche Ordensland Preußen (1862), in dem es u.a. heißt: „Diese vorgeschobenen Posten [die Ordensburgen in Thorn, Kulm, Marienwerder] sind im kleinen, was das Ordensland dem Reiche ist: ein fester Hafendamm, verwegen hinausgebaut vom deutschen Ufer in die wilde See der östlichen Völker“ (Göttingen 1958, S.19).

[15] Adenauer zitiert nach: Harald Welzer: Zurück zur Opfergesellschaft. Verschiebungen in der deutschen Erinnerungskultur. In: Neue Zürcher Zeitung, 03.04.2002. Zur Thematisierung von Flucht und Vertreibung in den 50er und 60er Jahren äußert sich in einem Zeit-Interview (28.08.2003) auch der deutsche Außenminister Joschka Fischer, als gefragt wird: „Hat ihre Generation sich dem Thema Vertreibung zu wenig gestellt, gab es da ein Tabu?“ – Antwort: „Von wegen Tabu. Meine ganze Kindheit und Jugend besteht aus diesen Geschichten von Vertreibung, Besatzung, Bombennächten und den Treffen der Heimatvertriebenen. Die ganze Publizistik jener Tage ist voll davon. Ich hatte ganz andere Tabus, nämlich was die Frage der Schuld der Deutschen betrifft, das war ja vor Mitte der sechziger Jahre fast vollkommen ausgeblendet.“ Meine privaten Erinnerungen decken sich in diesem Punkt mit denen Joschka Fischers.

Der „Generalplan Ost“ sah die Versklavung und Vertreibung von 30 Millionen Russen, Polen, Tschechen und Ukrainern nach Sibirien sowie eine Ostverschiebung der „deutschen Volkstumsgrenze“ vor. Auch wenn die von Hitler und seinen wissenschaftlichen Planungsstäben ins Auge gefassten „ethnischen Säuberungen“ nicht realisiert werden konnten, bestimmten sie doch das Verhalten des deutschen Besatzungsregimes im Osten Europas. Vgl. Mechthild Rössler und Sabine Schleiermacher (Hrsg.): Der „Generalplan Ost“. Hauptlinien der nationalsozialistischen Planungs- und Vernichtungspolitik. Berlin 1993. Wie wenig „man“ in Deutschland über die Völkerverschiebungen der nationalsozialistischen Epoche weiß, lässt sich an dem Rätselraten um die Herkunft des im Frühjahr 2004 neu gewählten deutschen Bundespräsidenten erkennen. Horst Köhlers Eltern stammen aus Bessarabien, sie wurden auf der Grundlage eines deutsch-sowjetischen Bevölkerungsverschiebungs­abkommens vom 05.09.1940 „heim ins Reich“ geholt bzw. in den polnischen Kreis Zamosc. Dort, in Skierbieszow, wurde Horst Köhler am 22.02.1943 geboren, den Ort hatten die deutschen Behörden in „Heidenstein“ umbenannt. Vgl. die Spiegel-Titelgeschichte in Nr.11/2004 sowie Ortfried Kotzian: Mysterium der Herkunft. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30.04.2004. – Wie der Generalplan Ost in Horst Köhlers Geburtsort umgesetzt wurde, schilderte vor einigen Jahren der polnische Oberschüler Marcin Bartoń: Anordnung Nr. 17 c. Die Räumung des Dorfes Skierbieszow. In: Grenzerfahrungen. Jugendliche erforschen deutsch-polnische Geschichte. Hrsg. Von Alicja Wancersz-Gluza. Hamburg 2003, S.173-186.

[16] Von einer „Hysterisierung“ der Schuld- und Täterdebatte in der 68er-Generation spricht (aus genauer Kenntnis der Szene) Peter Schneider in seinem o.e. Aufsatz Alles reimt sich auf Faschist.

[17] Willy Brandt hatte am 20.11.1970 in seiner Warschauer Rede zum deutsch-polnischen Vertrag noch gesagt: „Der Krieg und seine Folgen haben beiden Völkern, auch uns Deutschen, unendlich viele Opfer abverlangt. […] Wer seine Angehörigen verloren hat, wem seine Heimat genommen wurde, der wird nur schwer vergessen können. Und wir anderen müssen Verständnis und Achtung aufbringen für eine Last, die für uns alle mitgetragen wird. Trotzdem muss ich gerade in dieser Stunde die heimatvertriebenen Landsleute bitten, nicht in Bitterkeit zu verharren, sondern den Blick in die Zukunft zu richten. […] Der Vertrag […] bedeutet keine Rechtfertigung der Vertreibung. Worum es geht, ist der ernste Versuch, ein Vierteljahrhundert nach dem Krieg der Kette des Unrechts politisch ein Ende zu setzen.“ Zit. nach Fritz Peter Habel und Helmut Kistler: Die Grenze zwischen Deutschen und Polen. 2. Aufl. Bonn 1972, S.89 f.. Auch in Richard von Weizsäckers berühmt gewordener Ansprache zum 8. Mai 1985 hieß es noch: „Bei uns selbst wurde das Schwerste den Heimatvertriebenen abverlangt. Ihnen ist noch lange nach dem 8. Mai bitteres Leid und schweres Unrecht widerfahren. Um ihrem schwerem Schicksal mit Verständnis zu begegnen, fehlt uns Einheimischen oft die Phantasie und auch das offene Herz.“ Dieser Satz von 1985 fand aber kein Echo in der sonst so breiten Rezeption der Weizsäcker-Rede.

[18] Heiner Müller: Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen. Eine Autobiographie. Erweiterte Neuausgabe. Köln 1994, S.345 f.

[19] Woher rührt diese Aufwertung des Opferstatus, die derzeit zu einem regelrechten Opferwettlauf zu führen scheint? Galt nicht einst den glorreichen Siegern der Respekt der Geschichte? Ab wann vollzieht sich dieser Wandel? Ist er auf die europäisch-westliche Kultur beschränkt? – Vgl. Jean-Michael Chaumont: Die Konkurrenz der Opfer. Genozid, Identität und Anerkennung. Lüneburg 2001.

[20] Einen analogen Vorgang gibt es im Diskurs über die Verbrechen der kommunistischen Staaten, etwa wenn Paul Rothenhäusler und Hans-Ueli Sonderegger einem von ihnen hrsg. Sammelband über den „Jahrhundertverrat der Intellektuellen“ den Titel geben: Erinnerung an den Roten Holocaust (Stäfa 1999). – Zu vergleichen wäre auch der „kleine“ Skandal um die Rede der ehemaligen lettischen Außenministerin Sandra Kalniete auf der Buchmesse in Leipzig im März 2004, in der sie „im Namen der historischen Wahrheit davon sprach, die totalitären Regime des Nazismus und des Kommunismus seien gleichermassen verbrecherisch (‚equally criminal’) gewesen“ – Marc Zitzmann: Leipziger Allerlei. In: Neue Zürcher Zeitung, 29.03.2004. Vgl. ferner Ijoma Mangold: Eklat in Leipzig. Salomon Korns Protest: Der Historikerstreit lässt grüßen. In: Süddeutsche Zeitung, 26.03.2004, Salomon Korn: NS- und Sowjetverbrechen. Sandra Kalnietes falsche Gleichsetzung. In: Süddeutsche Zeitung, 31.03.2004, Richard Herzinger: Geteilte Erinnerung. In: Die Zeit, 01.04.2004, Joachim Güntner: Unkenntnis und ungleiches Gedenken. Gulag und Holocaust – Nachbetrachtungen zum Eklat von Leipzig. In: Neue Zürcher Zeitung, 03./04.04.2004. – Sandra Kalnietes für die neue, stark nationalistisch ausgerichtete lettische Führungsschicht vielleicht charakteristische Geschichts- und Identitätsauffassung lässt sich leichter nachvollziehen durch Lektüre ihres Buches: Mit Ballschuhen im sibirischen Schnee. Die Geschichte meiner Familie. Aus dem Lettischen von Matthias Knoll. München 2005.

[21] Rolf-Josef Eibicht: Ich klage an! Der Vertreibungsholocaust am deutschen Volk – ein Jahrtausend­verbrechen! In: Die konservative Informationsbasis im Internet. www.konservativ.de/eibicht/eibicht12.htm (aufgerufen am 26.03.2004). - Fand man die direkten Holocaust-Vergleiche bisher vor allem auf obskuren Internet-Seiten, so sind sie inzwischen auch in deutsche Parlamentsdebatten vorgedrungen. Im sächsischen Landtag z.B. wurde am 21.01.2005 die Bombardierung Dresdens im Februar 1945 als „Bomben-Holocaust“ bezeichnet. – Reiner Burger: Selbstentblößung. Wieder ein NPD-Eklat im sächsischen Landtag. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22.01.2005.

[22] Die empörten, auch populistisch-hysterischen polnischen Reaktionen auf die Aktivitäten der Preußischen Treuhand wurden in Deutschland zunächst nicht registriert. Erst ein Zeit-Dossier versuchte die deutsche Öffentlichkeit aufzurütteln – Roland Kirbach: „Da müssen sie mit dem Panzer kommen!“ Mit dem EU-Beitritt wächst in Polen die Angst vor den Deutschen. Eine Gesellschaft namens Preußische Treuhand, an deren Spitze Funktionäre der Vertriebenenverbände stehen, fordert „deutsches“ Eigentum zurück. In: Die Zeit, Nr.23, 27.05.2004. Die Entschädigungsforderungen der Vertriebenen dominierten durch das ganze Jahr 2004 die deutsch-polnischen Beziehungen, vgl. z.B. den Kommentar Preussische Pandorabüchse (anlässlich des Besuchs des deutschen Bundeskanzlers in Warschau) in: Neue Zürcher Zeitung, 04.08.2004.

[23] Die Preußische Treuhand, Die Grundidee. Internet-Startseite. www.ostpreussennrw.de/Treuhand/ Grundidee.html ( aufgerufen 26.03.2004).

[24] Christoph Jahr: Bis zum bitteren Ende. Jörg Friedrichs Buch über Deutschland im Bombenkrieg. In: Neue Zürcher Zeitung, 12.12.2002. – Vgl. ferner: Volker Ullrich: Weltuntergang kann nicht schlimmer sein. In: Die Zeit, 28.11.2002, Peter Wapnewski: Churchill aus dem Bunker erlebt. Bomben auf uns: Wir haben geschwiegen, jetzt müssen wir reden. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 03.12.2002, Joachim Güntner: Der Bombenkrieg findet zur Sprache. In: Neue Zürcher Zeitung, 07./08.12.2002. Eine fachhistorische Bewertung unternimmt: Horst Boog: Kolossalgemälde des Schreckens. Duchschlagskraft in den Formulierungen, aber sachlich nichts Neues. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.12.2002. Über die britischen Reaktionen auf Friedrichs Buch berichtet: Lothar Kettenacker: Wollen sich die Deutschen etwa als Opfer sehen? Die britische Debatte um den Luftkrieg. In: Die Zeit, 05.12.2002. – Als Auftakt der Bombenkrieg-Debatte gilt W.G.Sebald: Luftkrieg und Literatur. München, Wien 1999. Vgl. dazu: Volker Hage: Zeugen der Zerstörung. Die Literaten und der Luftkrieg. Frankfurt/M. 2003.

[25] Sehr kritisch zu Leben und Wirken der Artikel von Jörg Lau: Gedenken mit Schmiss. Zu Pfingsten hat die Vertriebenen-Funktionärin Erika Steinbach wieder Gelegenheit zu kämpferischen Reden. Auf Gefühle der Polen nimmt sie wenig Rücksicht. In: Die Zeit, 27.05.2004.

[26] H.G. Adler zit. nach: Erika Steinbach: Auch nach dem Krieg dauerte die Unmenschlichkeit an. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 08.05.2000.

[27] Der als Kind aus dem „Sudetenland“ vertriebene Peter Glotz, einst Bundesgeschäftsführer der SPD, streitet an der Seite Erika Steinbachs gegen den „Gedächtnisverlust“, so der Titel seines Beitrags für die Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.09.2000, in dem er eine „Neuorientierung der politischen Linken zum Vertreibungsproblem“ konstatiert und das Programm des „Zentrums gegen Vertreibungen“ propagiert. Vgl. auch Peter Glotz: Die Vertreibung. Böhmen als Lehrstück. 3. Aufl. München 2003.

[28] H.G. Adlers Theresienstadt-Buch entstand zwischen 1945 und 1948, zuerst veröffentlicht wurde es 1955.

[29] Das (Des)Interesse der (organisierten) Vertriebenen am Schicksal ihrer jüdischen Nachbarn ist m.W. bisher nicht erforscht. Hinweise auf das Thema finden sich in den Ostpreußen-Büchern Ulla Lachauers und natürlich bei Autoren wie Johannes Bobrowski. Zum Verhältnis von Holocaust und Vertreibung vgl. Micha Brumlik: Wer Sturm sät. Die Vertreibung der Deutschen. Berlin 2005.

[30] Rudi Goguel: „Cap Arcona“. Report über den Untergang der Häftlingsflotte in der Lübecker Bucht am 3. Mai 1945. Frankfurt/M. 1972, S.70 f.

[31] Helene Holzman: „Dies Kind soll leben.“ Die Aufzeichnungen der Helene Holzman 1941-1944. Hrsg. Von Reinhard Kaiser und Margarete Holzman. Frankfurt/M. 2000, S.278.

[32] Uwe Johnson: Jahrestage. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl. Bd. 3. Frankfurt/M. 1973, S. 1113 f. (5. Mai 1968).

[33] Von einem „potenziellen geschichtspolitischen rollback“ spricht Samuel Salzborn: Geschichtspolitik in den Medien: Die Kontroverse über ein „Zentrum gegen Vertreibungen“. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 51 (2003), H.12, S.1120-1130, hier S. 1120.

[34] Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2004: Péter Esterházy. Frankfurt/M. 2004, S.37 f. – Mit „wir“ meint Esterházy die Völker Ostmitteleuropas, es sei ein „allgemeiner osteuropäischer Reflex“, „sich ausschließlich und fortwährend als Opfer zu sehen“ (ebd.). – Bei den westeuropäischen Nachbarn Deutschlands wird die „eigene Verantwortung“ seit gut zehn Jahren an auch prominenter Stelle benannt, man denke z.B. an Präsident Chiracs deutliche Hinweise auf Frankreichs Verstrickung in die Judenverfolgung unter dem Vichy-Regime, auf die Mitverantwortung des französischen Staates für die Deportationen.

[35] Vgl. Stefan Chwin: Das „Glück“ der Vertriebenen. Persönliche Anmerkungen zu einer allzu abstrakt verlaufenden Debatte. Aus dem Polnischen von Gerhard Gnauck. In: Neue Zürcher Zeitung, 20.10.2003.