Ulrich Grochtmann: München 1938/ März 1939. Hintergründe, Ereignisse, Folgen: Ereignisse und Entwicklungen vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg. Ein Beitrag zum Thema „Deutsche und Tschechen im 20. Jahrhundert“, hg. v. AstA der Geschwister-Scholl-Universität München, München 2004, 311 S.

 

Diese einzigartige Dokumentation kann als umfassender Beweis dafür gelten, wie historisch unhaltbar heute gängige Interpretationen der deutsch-tschechischen Konflikte sind, die sich völkischen ethnozentrischen Perspektiven verschrieben haben. Die Kritik an den sudetendeutschen antidemokratischen und antihumanistischen Traditionen, die die Sudetendeutsche Partei zur „Fünften Kolonne“ Hitlers machten, war keineswegs Ausdruck eines sog. tschechischen Nationalismus oder gar tschechischer antideutscher Ressentiments. Die Auseinandersetzung mit der Ideologie des sog. Sudetendeutschtum war primär eine innerdeutsche Angelegenheit. Zahlreiche Zitate und Karikaturen aus dem deutschsprachigen kulturellen Leben in der Tschechoslowakei vor dem Zweiten Weltkrieg illustrieren anschaulich, wie gespalten die deutschsprachige Gesellschaft war und welch massiver, aber auch scharfsichtiger Kritik deutschsprachige Autoren die sudetendeutsche völkische Bewegung Konrad Henleins damals ausgesetzt wurde.

 

Die Entstehung dieses Buches ist, wie es im Vorwort heißt, auf eine Wanderausstellung zurückzuführen, die Anfang 1999 von den Mitgliedern der Čapek-Gesellschaft Hagen zusammengestellt worden und Ludwig Czech (1870-1942) sowie Emil Strauß (1889-1942) gewidmet war. Die beiden deutschen Sozialdemokraten gehörten zu denjenigen deutschen Politikern und Publizisten, die im Kampf gegen Faschismus, das NS-Regime und gegen dessen „Fünfte Kolonne“, die Sudetendeutsche Partei, ihr Leben verloren haben. Das Buch ist aus dem Bemühen heraus entstanden, an die sozialdemokratische Tradition in der Tschechoslowakei und ihre Kritik der sudetendeutschen völkischen Denkweise, die bis heute in der deutschen Öffentlichkeit ihre politische Wirkung entfaltet, zu erinnern.

 

In den Texten von Ulrich Grochtmann begegnen wir aber auch bis heute ausgebliebenen kritischen Auseinandersetzung mit den sog. aktivistischen bürgerlichen Parteien der damaligen deutschen Minderheit in der Tschechoslowakei. Der Verfasser stützt sich dabei vor allem auf die Beobachtungen der Zeitung „Sozialdemokrat“, in denen vor allem alldeutsche und faschistische Denkweisen angeprangert wurden, die in einzelnen politischen Stellungnahmen auch der aktivistischen Parteien zum Ausdruck kamen. Seine Darstellung erklärt damit, warum sich diese Parteien und die meisten ihrer führenden Politiker in der unmittelbaren Vor-Münchner-Zeit Henleins völkischen Bewegung angeschlossen, sich als eigenständige Parteien selbst demontiert haben und am Ende in der NSDAP wirkten. Damit wendet sich der Verfasser gegen die bis heute in der deutschen Geschichtsschreibung  populäre These, daß „die deutschen bürgerlichen Parteien sich in der Regel um Toleranz und Ausgleich bemüht hätten“ (S. 48), und erinnert an die heute nahezu vergessenen Aufrufe der Zeitung „Sozialdemokrat“: „Der sudetendeutsche städtisch-bürgerliche Aktivismus hat sich ... mit voller Sympathie den Henkern der deutschen Freiheit zugewandt“ (Sozialdemokrat 4.3.1933); “Wollt ihr abseits stehen angesichts der Katastrophe? Die sudetendeutsche Bürgerpresse hat sich von Herrn Hitler ‚gleichschalten’ lassen. Wer sie liest, erfährt nicht die Wahrheit“ (Sozialdemokrat 19.5.1933); „Die bürgerliche Presse schweigt; sie breitet über alle Brutalitäten der Hitlerhorden den Mantel der Barmherzigkeit“ (Sozialdemokrat 1.6.1933, alle Zitate auf S. 51).

 

Mit großer Aufmerksamkeit widmet sich Ulrich Grochtmann der deutsch-tschechischen Zusammenarbeit im Bemühen um die Abwehr der aus dem NS-Deutschland drohenden Gefahren: „Renommierte deutsche Autoren, Wissenschaftler, Künstler und Politiker fanden in Prag und anderen Städten der ČSR Zuflucht. Prag wurde letztmalig zu einer kulturellen Hochburg, die ihren Charakter weitgehend einer äußerst fruchtbaren tschechisch-deutschen Zusammenarbeit verdankte.“ (S. 55) Der Verfasser breitet vor seinen Lesern ein monumentales Fresco der deutsch-tschechischen Beziehungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts aus, das alles andere als das Bild eines vermeintlichen „Nationalitätenkonflikts“ ist. Im Mittelpunkt der damals dramatischen Konflikte standen keineswegs ethnisch-nationale deutsch-tschechische Themen, sondern die demokratisch-liberalen Ideale des europäischen Humanismus, die durch die alldeutsch-völkische bzw. nationalsozialistische Bewegung sowohl im Deutschen Reich wie auch in Österreich und in der Tschechoslowakei bekämpft wurden. Das Buch ist eine Schatzruhe für jeden, der an heute weitgehend verdrängten und in Vergessenheit geratenen historischen Informationen zur Geschichte der deutsch-tschechischen Beziehungen im 20. Jahrhundert interessiert ist.