Hans Henning Hahn zu Neuerscheinungen über ein europäisches Erinnern an Zwangsmigration und ethnische Säuberung

 

Faulenbach, Bernd; Helle, Andreas (Hg.): Zwangsmigration in Europa. Zur wissenschaftlichen und politischen Auseinandersetzung um die Vertreibung der deutschen aus dem Osten, Klartext Verlag, Essen 2005, ISBN 3-8986-448-4, 111 S.

 

Kruke, Anja (Hg.): Zwangsmigration und Vertreibung – Europa im 20. Jahrhundert, Verlag J.H.W. Dietz Nachf., Bonn  2006, ISBN 3-8012-0360-3, 240 S.

 

In einem öffentlichkeitswirksamen Schlagabtausch im Sommer 2003 über die Art und Weise, wie in Deutschland des Vertreibungsgeschehens während und nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zu gedenken sei, hatten sich drei Grundrichtungen herausgeschält: einmal die Anhänger der Gründung eines vom Bund der Vertriebenen (BdV) initiierten ‚Zentrums gegen Vertreibungen’, personifiziert von der CDU-MdB und BdV-Vorsitzenden Erika Steinbach, zum anderen die Unterzeichner des in vier Sprachen publizierten internationalen Aufrufs „Für einen kritischen und aufgeklärten Vergangenheitsdiskurs“, die einen völlig anderen, „kritischen und aufgeklärten“ Umgang mit dem Problem forderten (www.vertreibungszentrum.de) und schließlich die Vertreter der Option eines europäischen Gedenkens, die es für geschichtspolitisch sinnvoller hielten, der Vertreibung durch ein in Polen zu lokalisierndes Forschungs- und Gedächtniszentrum gedenken, eine Option, für die der SPD-MdB Markus Meckel warb. Zur Jahreswende 2003-2004 mobilisierten dann Historiker, die sich der rot-grünen Koalition verbunden fühlten, die Reihen, um eine institutionelle Alternative zum Steinbachschen Projekt präsentieren zu können. So fand im Dezember 2003 in Bonn ein von der Historischen Kommission beim Parteivorstand der SPD veranstaltetes Symposium statt, dem im März 2004 eine etwas größere Tagung der Friedrich-Ebert-Stiftung folgte. Beide Tagungen haben zu den hier zu besprechenden Bänden geführt. Vorausgegangen war im August 2003 die Danziger Erklärung der beiden damaligen Staatsoberhäupter Rau und Kwaśniewski; nach einer Absichtserklärung der vier Kulturminister Polens, der Slowakei, Ungarns und Deutschlands vom 2. Februar 2005 folgte im September 2005 die Gründung des ‚Europäischen Netzwerks Erinnerung und Solidarität’ als Stiftung in Warschau. Seitdem ist es eine offene Frage, ob nicht die neue deutsche Regierung mit der im Koalitionsvertrag festgelegten Entscheidung, in Berlin ein „sichtbares Zeichen“ (sprich ‚Zentrum gegen Vertreibungen’) zu errichten, die gemeinsame Geschäftsgrundlage des ‚Europäischen Netzwerks’ verlassen habe, und das läßt die Zukunft des Unternehmens doch recht offen erscheinen.

Unabhängig von den in beiden Bändern versammelten Texten dokumentiert ihre bloße Existenz eine geschichtspolitische Offensive, die auch deklaratorisch in auf den genannten beiden Tagungen verabschiedeten Erklärungen zum Ausdruck kam (beide bei Faulenbach S. 103-107). Die damaligen Abgrenzungsbedürfnisse gegenüber dem BdV scheinen sich mit der großen Koalition auch geschichtspolitisch weitgehend erledigt zu haben: In Berlin waren im August 2006 einträchtig die rot-grün inspirierte Ausstellung „Flucht, Vertreibung, Integration“ im Deutschen Historischen Museum und auf der gegenüberliegenden Straßenseite die vom BdV inspirierte Ausstellung „Vergessene Wege“ im Kronprinzenpalais als eine schwarz-rote große Ausstellungskoalition zu besichtigen, so als wollten alle bekräftigen, daß sie in der Sache eigentlich nichts getrennt habe.

Also viel Lärm um nichts? Es ist vielleicht unfair, a posteriori zu urteilen, daher lohnt sich doch ein genauerer Blick auf die beiden Bände. Vom Thema her liegt das Schwergewicht des ersten (Faulenbach/Heller) auf dem Bemühen, das Paradigma ‚ethnische Säuberungen’ durchzusetzen, während – schon auch aufgrund der internationalen Zusammensetzung – der zweite (Kruke) vor allem das Anliegen der ‚Europäisierung’ verficht.

Der Faulenbach/Heller-Band besteht, wenn man die üblichen Formaltexte einmal beiseite läßt, aus 3 thematischen Referaten von Norman Naimark, Götz Aly und Hans Lemberg, einer Skizze der Haltung der damaligen Bundesregierung (aus der Feder des damaligen Ministerialdirigenten bei der Staatsministerin für Kultur und Medien Knut Nevermann) sowie dem Protokoll einer Podiumsdiskussion, bei der als einzige Vertreterin der möglichen Gegenpositionen Helga Hirsch sprach. Alle beteiligten Autoren gehen unhinterfragt von den beiden Thesen aus, daß erstens die Vertreibung der Deutschen eine ‚ethnische Säuberung’ gewesen sei, und daß zweitens das ethnische Denken für die europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts prägend gewesen sei; letzteres gelte nicht nur für alle Varianten des völkischen Nationalismus, sondern auch für die Entscheidungen der Alliierten im Zweiten Weltkrieg, aber auch zuvor in anderen Problemlagen, und schließlich auch für die Sowjetunion. Selbst Antisemitismus samt der einzigartigen nationalsozialistischen Judophobie wird in diesen Sack gepackt. Es erstaunt schon, daß niemandem bei soviel Gemeinsamkeit so unterschiedlicher Figuren wie Woodrow Wilson, Winston Churchill, Hitler und Stalin doch Bedenken kamen und niemand die Idee äußerte, daß es doch recht unterschiedliche Nationskonzepte im Laufe der neueren Geschichte Europas gegeben habe, so daß man nicht alle Formen des Nationalen auf das ethnische Paradigma zurückführen könne.

 

Die drei als „führend“ vorgestellten (S. 17) Autoren Naimark, Aly und Lemberg stellen ihre bekannten diesbezüglichen Interpretationen der Vertreibung in apodiktischem Stil vor. Ursache der Vertreibung sei „vor allem die ideologische Wahnidee in den 30er und 40er Jahren des 20. Jahrhunderts“ (Hans Lemberg, S. 51), ohne daß allerdings diese These auch nur versuchsweise belegt würde. Ebensowenig begründet Götz Aly seine Behauptung: „In der Tat erklärt sich auch das 1945 geschlossene Potsdamer Abkommen als Produkt einer europäischen Denkschule, die − bei aller Unterschiedlichkeit in den Methoden − eine fortschreitende, notfalls gewaltsame ethnische und soziale Homogenisierung der europäischen Staaten einer historisch gewachsenen Heterogenität vorzog.“ (Götz Aly, S. 35f.) Daß der Leser wissenschaftliche haltbare Begründungen vermißt, mag daran liegen, daß generell auf Fußnoten verzichtet wurde. Norman Naimark, der die Hauptthesen seines bekannten Buchs „Flammender Haß“[1] referiert, steuert noch die These bei,  daß „in den polnischen und tschechischen Internierungslagern“ deutsche Frauen infolge der „Ideologie des integralen Nationalismus“ als „Trägerinnen der nächsten Generation eines Volkes“ vergewaltigt wurden, da sie ihren Vergewaltigern als „der biologische Kern der Nation“ erschienen wären, der die Aufgabe habe, „die kulturellen und geistigen Werte ihres Volkes an ihre Kinder weiter zu geben“ (Norman Naimark, S. 26). Hier haben wir es wohl mit einer Rückprojizierung bosnischer Horrorgeschichte auf die 40er Jahre zu tun. Belegt wird ohnehin nichts. Wenn Naimark schreibt: „Im Mai 1992, in der ersten Phase  des Krieges in Bosnien, trat der Begriff der ‚ethnischen Säuberung’ plötzlich in unser Bewußtsein“ (S. 21), dann entsteht das Bild eines Erleuchtungsmoments, wie man das gesamte 20. Jahrhundert erklären könne. So illustrieren die Beiträge dem Leser anschaulich, wie das Konzept der sog. ethnischen Säuberung konkrete historisch-politischen Zusammenhänge ausblendet und mit einer ethnisierenden Perspektive Geschichtsbilder konstruiert werden, die beweisen sollen, ‚die Europäer’ hätten im 20. Jahrhundert vorwiegend aus ‚ethnischen’ Motiven gehandelt. Wenn man einzelne Beispiele ethnisch begründeter Zitate und ein paar auf ihre ethnische Dimension reduzierte Ereignisse zusammenstellt, entsteht zwar tatsächlich das Geschichtsbild einer vom ethnischen Bazillus besessenen europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts, aber dieses Bild ist ebenso inhaltsleer und wenig glaubhaft wie ehedem die Reduzierung aller Geschichtsbilder auf Klassenkonflikte. Auf die zahlreichen pauschalisierenden und nicht selten falschen Behauptungen Naimarks kann hier nicht weiter eingegangen werden, daher nur ein Beispiel: Naimark begründet seine These von der ‚ethnischen Säuberung’ u. a. mit dem Hinweis auf die „Totalität“ der Vertreibung (S. 24f.), Ausnahmen seien nicht vorgesehen gewesen und kaum gemacht worden. Mit so einer Kleinigkeit wie dem Umstand, daß seit den 1950er Jahren etwa 1,4 Mill. Menschen als Spätaussiedler aus Polen ohne Zwang ausreisten und es noch heute eine beträchtliche deutsche Minderheit in Polen gibt, und daß auch Antifaschisten in der Tschechoslowakei nicht gezwungen wurden, auszureisen, sondern auch dableiben konnten, und daß vor allem zahlreiche deutsche Mitglieder der Kommunistischen Partei auch blieben, befaßt er sich nicht weiter.[2]

 

Alle Autoren konzentrieren sich zum einen auf Polen und Tschechen als Täter, machen (vor allem Aly) einen allgemeinen europäischen Irrglauben vom ethnisch homogenen Nationalstaat als Zielvorstellung verantwortlich und unterstellen, die Alliierten hätten in Potsdam 1945 nur deshalb beschlossen, die deutsche Bevölkerung aus Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn umzusiedeln, weil es Deutsche waren. Sie scheinen zu übersehen, daß die Potsdamer Konferenz eine deutschlandpolitische Konferenz angesichts der Beendigung des Zweiten Weltkriegs war und daß daher die Umsiedlung im Zusammenhang mit der dort diskutierten Frage stand, welche Maßnahmen eine künftige Wiederholung der deutschen Versuche verhindern könnten, die deutschen Minderheiten zugunsten deutscher expansionistischer Kriegspläne im östlichen Europa noch einmal zu instrumentalisieren.

 

Der von Anja Kruke herausgegebene Band tritt mit einem anderen wissenschaftlichen Anspruch auf, äußerlich schon daran festzumachen, daß die meisten Autoren doch versuchen, ihre Thesen auch in Fußnoten zu belegen. Die 20 Beiträge des Bandes (neben einer Einleitung von Friedhelm Boll und Anke Kruke S. 9-30) sind in zwei Abschnitte unterteilt: Unter der Überschrift „Zwangsmigration in übergreifender Perspektive“ steuerten sechs Autoren aus Deutschland sowie die Wiener Kulturwissenschaftlerin Heidemarie Uhl und der Pariser Historiker Thomas Serrier ihre Gedanken bei; der zweite Teil, „Zwangsmigration in nationaler Geschichtsschreibung und Erinnerungskultur“ enthält jeweils 4 Beiträge zu drei europäischen Regionen: „Baltikum/Polen“, „Tschechien/Österreich/Slowakei“ und „Ungarn/Slowenien/Italien“. Andere Teile des europäischen Kontinents wurden nicht berücksichtigt, da im Mittelpunkt des Interesses der Herausgeber offensichtlich die Vertreibung der Deutschen infolge des Zweiten Weltkriegs und keineswegs die Geschichte der Zwangsmigration und Vertreibung im gesamten Europa im 20. Jahrhundert steht.

 

„Die Autoren plädieren für die Schaffung eines ‚Europäischen Netzwerks: Zwangsmigration und Vertreibung im 20. Jahrhundert’", heißt es zwar auf dem Umschlagstext, doch ist diese Behauptung nicht ganz wörtlich zu nehmen, denn nicht alle Beiträge liegen auf der Linie dieses Projekts. Peter Haslinger (S. 77-82) weist darauf hin, und hier ist ihm zuzustimmen, daß es zunächst neuer Forschungen auch über den konkreten Hergang bedürfe, bevor jenes historische Geschehen, an das erinnert werden soll, erst überhaupt einer rationalen Diskussion zugänglich gemacht werden könne. Wolfgang Höpken (S. 107-115) zeigt, daß das deutsche Erinnern an die Vertreibung über Jahrzehnte lange in Schulbüchern der jeweiligen politischen Lager entsprechend instrumentalisiert wurde, woraus sich wohl die Notwendigkeit einer kritischen Auseinandersetzung mit der Geschichte des deutschen Erinnerns an die Vertreibung ergibt. Mehrere Autoren – vor allem Heidemarie Uhl (S. 69-75), Thomas Serrier (S. 97-106) und Paweł Machcewicz (S. 147-150) − erläutern die schwerwiegenden Bedenken, die die neuesten Entwicklungen im deutschen Erinnern an die Vertreibung europaweit hervorgerufen haben. Manche Beiträge äußern sich überhaupt nicht zu dem Projekt, für das der Umschlagtext plädiert, und zwei Beiträge stammen von Mitgliedern des wissenschaftlichen Beirats der Stiftung „Zentrum gegen Vertreibungen“, die das konkurrierende BdV-CDU/CSU-Projekt unterstützen, nämlich Hermann Schäfer (S. 83-95) und Krisztián Ungváry (S. 207-218). Zwei Beiträge zu Tschechien und einer zur Slowakei bilanzieren informativ und anschaulich die Erfahrungen ihrer Autoren, die in zwischenstaatlich institutionalisierten und koordinierenden Organisationen seit 1990 tätig sind, Erfahrungen, die gerade im Themenbereich ‚Flucht und Vertreibung’ keineswegs ermutigend sind. Das Buch regt damit zum Nachdenken darüber an, warum das von der Friedrich-Ebert-Stiftung angepriesene ‚Europäisierung-Projekt’ bisher doch wenig erfolgreich war.

 

Die meisten Autoren haben sich offensichtlich nur wenig Gedanken darüber gemacht, was sie mit dem Begriff ‚europäisch’ eigentlich konkret meinen, so daß nur eine sorgfältige Textanalyse ein wenig orientierende Aufklärung bringen kann. Das soll im Folgenden versucht werden.

 

Die unklare Verwendung des Adjektivs ‚europäisch‘ sorgt in der ganzen Debatte von Anfang an für Mißverständnisse. An der Wiege des Vorhabens lag die Entschließung des Deutschen Bundestages vom 4. Juli 2002 „Für ein europäisch ausgerichtetes Zentrum gegen Vertreibungen“ (Drucksache14/9033/9661, vgl. hier S.13). Damit reagierte die damals Rot-Grüne-Mehrheit der Abgeordneten auf das BdV-Projekt ‚Zentrum gegen Vertreibungen’, mit Hilfe eines in Berlin neu zu errichtenden und staatlich geförderten Museums und zugleich Mahnmals das BdV-Erinnern an die Vertreibung als einen deutschen nationalen Erinnerungsort zu institutionalisieren. Dem Anliegen, das Gedenken an die Vertreibung zu europäisieren, lag also eine deutsche innenpolitische Kontroverse zugrunde. Ihre Geschichte wird dementsprechend in der Einleitung rekapituliert (vgl. S. 11-20) und damit erklärt, warum sich die Friedrich-Ebert-Stiftung mit der Frage beschäftigt, wie man das Erinnern an die Vertreibung ‚europäisieren‘ könnte. Dieses sozialdemokratisches Anliegen fand bisher die Unterstützung zahlreicher deutscher Wissenschaftler und wurde auch von mehreren Historikern in den sog. Vertreibungsstaaten unterstützt, so daß man inzwischen in der Tat von einem internationalen Projekt zur ‚Europäisierung‘ des Erinnerns an einen Aspekt der Nachkriegszeit im östlichen Europa sprechen kann. In diesem Sinne ist das Europäisierungsprojekt zwar ein internationales Projekt, aber kein europäisches Projekt. Wie dieser Band zeigt, scheint das in Deutschland initiierte Anliegen in den meisten europäischen Staaten nur wenig Akzeptanz gefunden zu haben. Offensichtlich hat auch niemand versucht, festzustellen, ob in weiteren europäischen Ländern zwischen Portugal, Großbritannien und Skandinavien Interesse für das Thema als eines wichtigen europäischen Anliegens bestehe. Miteinzubeziehen wären ja auch Israel und die USA, haben doch gerade in diesen beiden Ländern zahlreiche vertriebene Europäer ihre Zuflucht gefunden.

 

Stefan Troebst (S. 41-48) präsentiert eine Reihe diverser Vorschläge, die bisher in die Diskussion darüber eingebracht worden seien, was „eine paneuropäische wissenschaftliche Einrichtung zur Erforschung politisch motivierter Zwangsmigration leisten sollte“. Seine Liste solle dem weiteren konzeptionellen Nachdenken „als Inspiration und shopping list dienen“, und es sind wahrlich bedenkenswerte Ideen darunter: Philipp Ther von der Viadrina Universität in Frankfurt/Oder z. B. optiere für „Verstetigung der Erinnerung, Musealisierung, Didaktisierung und bedingt Verwissenschaftlichung“ mittels einer „alleuropäischen Wanderausstellung“, die „in Geschichtswerkstätten an dem jeweiligen Ort der Ausstellung“ zu präsentieren sei; Stefan Laube von den Luthergedenkstätten in Wittenberg schwebe „auf der Basis von Originalen eine multisensuelle, szenographische Museumswelt“ vor, die „als emotional-intellektuelles Erlebnis ein touristisches High-Light“ jedes denkbaren Standortes sein könne; Mathias Vogt von der Fachhochschule Görlitz werbe für eine dezentrale Struktur, wo Lehrern und anderen Multiplikatoren „Handreichungen dafür gegeben werden, daß die nächste Generation positiv beeinflusst werden kann“; Jürgen Danyel und Christop Kleßmann seien der Meinung, daß „ein solches Zentrum zwar einen festen Ort haben könne, aber „im Kern als eine Wanderausstellung“ konzipiert werden solle: „Es müsste unterwegs in Europa sein, wie es einst die Flüchtlinge, Vertriebenen und Deportierten waren oder heute wieder sind“.

 

Inspirativ wirken bei solchen Diskussionen ganz offensichtlich die Erfahrungen aus dem Erinnern an den Holocaust, sei es das europaweite Interesse, seien es das Holocaust Museum in Washington D.C. oder Yad Vashem in Jerusalem (z. B. Troebst S. 46-48, besonders der Beitrag von Éva Kovács, S. 219-226). Diese Inspiration scheint auf einem Mißverständnis zu beruhen, der sich aus einem schlecht informierten historischen Vergleich zwischen dem Holocaust und der Vertreibung ergibt und den Eugen Lemberg schon 1950 in das deutsche Erinnern eingebracht hat: „Was Juden durch Deutsche zugefügt wurde, ist diesen von Tschechen und Polen widerfahren.“[3]. So offen wurde der Vergleich in diesem Band nicht formuliert, aber die drei zentralen Unterschiede zwischen den Erinnerungen an Holocaust und an die Vertreibung scheinen hier verdrängt worden zu sein: Erstens ist wohl übersehen worden, daß dem Holocaust unschuldige und wehrlose Menschen zum Opfer fielen, während die männliche Hälfte der Vertriebenen zu jener Zeit, als über die Umsiedlung der Deutschen entschieden wurde, in den Uniformen der Wehrmacht einen Krieg gegen einen beachtlichen Teil des europäischen Kontinents führte; zweitens sind die Deutschen nicht zwangsumgesiedelt worden, weil sie Deutsche waren, wie Menschen deportiert und ermordet wurden, weil sie das NS-Regime für Träger ‚jüdischen Blutes‘ erklärte, sondern weil 90 % der Vertriebenen 1945 Staatsbürger jenes Großdeutschen Reiches waren, das notorisch mit seinen Ostgrenzen unzufrieden gewesen war und sie mit brutaler Kriegsführung weit hinaus in das östliche Europa verlegt hatte, um die dort einheimische Bevölkerung im Namen des ‚Aufbaus‘ eines deutschen Kolonialreichs im östlichen Europa zu ermorden und zu versklaven; drittens entspricht die Internationalität der Erinnerung an den Holocaust der europaweit geteilten Erfahrung an die deutsche Besatzung und an die Ermordung der jüdischen Mitbürger, während die Vertreibung der Deutschen nur eine regional spezifische Erfahrung eines Teils des europäischen Kontinents darstellt.

 

Zur Klärung einiger diesbezüglicher Mißverständnisse trägt der Beitrag von Karl Schlögel „Wie europäische Erinnerung an Umsiedlung und Vertreibung aussehen könnte“ bei (S. 49-67). Schlögel geht von der Annahme aus, daß die Vertreibungserfahrungen als nationale Erfahrungen erinnert werden, und sieht ein, daß „es geradezu verwegen oder tollkühn anmutet, ein Museum der Vertreibungen oder ethnischen Säuberungen in Brüssel, Luxemburg oder Strassburg ansiedeln zu wollen – in Sachen Vertreibung gleichsam erfahrungslosen oder erfahrungsarmen europäischen Regionen“ (S. 55). ‚Die’ europäische Erinnerung gebe es nicht, meint Schlögel, und plädiert für ein „Zentrum zur Geschichte der Vertreibungen in Europa“ (S. 61). Darin solle ein neuer Weg eingeschlagen werden: „Mir scheint der Hauptweg in eine andere Richtung zu führen: in die Rekonstruktion des Zusammenhangs von staatlicher Gewalt von Bevölkerungsverschiebungen im mittleren und östlichen Europa in der Weltkriegsepoche“ (S. 56). Gleichzeitig hält Schlögel den „Verlust der Ostprovinzen des Deutschen Reiches und Flucht, Vertreibung und Umsiedlung von mehr als zehn Millionen Deutschen“ für eine zentrale Erinnerung der deutschen Gesellschaft, die „nicht irgendwohin ausgelagert werden“ könne, sondern „einen zentralen Ort in der Vergegenwärtigung deutscher Geschichte im 20. Jahrhundert haben“ müsse, und dafür sei das Deutsche Historische Museum in Berlin geeignet (S. 63). Das „Europäische Netzwerk“ sei aber als „die beste Garantie für die Rekonstruktion des europäischen Zusammenhangs“ nötig, meint er. Darüber hinaus erinnert Schlögel auch daran, was die „Normalgesellschaft“ den Heimatvertriebenen schulde: „Sie schuldet denen, die mit Heimatverlust bezahlt haben, wenigstens die Pflege der Erinnerung, die Arbeit am kulturellen Erbe und Gedächtnis“ (S. 63). Außerdem schlägt er vor, daß an der Viadrina Universität in Frankfurt/Oder eine Forschungsstelle „Staatliche Gewalt und Bevölkerungsverschiebungen in Ostmitteleuropa im 20. Jahrhundert“ gegründet werden solle, wo „Massenumsiedlungen, ‚Transfer‘ ganzer Bevölkerungsgruppen, ethnischer Minderheiten und sozialer Klassen, staatlich sanktionierte Austreibung und Deportation im Massenmaßstab, Genozid, Bevölkerungsaustausch gemäß ständig sich verändernder Grenzen“ zwischen 1914 und 1950 zu erforschen seien. Welche konkreten historischen Ereignisse dem jeweiligen Thema zuzuordnen seien, hat er nicht mehr in diesem Beitrag erörtert, aber es darf wohl vermutet werden, daß die Grenzveränderungen nach dem Ersten Weltkrieg und die Entstehung der Oder-Neiße-Grenze, der Holocaust und die Vertreibung der Deutschen aus den östlichen Teilen des 1945 untergegangenen Großdeutschen Reiches den Mittelpunkt bilden sollen.

 

Ähnliche Motive liegen auch dem ersten Beitrag des regionalen Teils „Baltikum/Polen“ zugrunde (S. 119-138). Darin stellt Claudia Kraft regionale Institutionen und Initiativen vor und erläutert „das generelle Potenzial“ solcher Initiativen für das „Europäische Netzwerk“. Um dieses Potential verstehen und ausschöpfen zu können, schlägt sie die Unterscheidung zwischen „Auseinandersetzung mit der Vergangenheit“ und „Auseinandersetzung mit dem Raum“ vor. Der erste Bereich betreffe „eher allgemein das durch den Krieg zerrüttete deutsch-polnische Verhältnis“ und „weniger Einzelfragen wie die Thematik der Vertreibung der Deutschen“; heutige zivilgesellschaftliche Initiativen sollen als Anknüpfungspunkte an die Vorarbeiten ihrer ‚mutigen‘ Vorgänger verstanden werden und „auf der Arbeit dieser Pioniere der deutsch-polnischen Annährung aufbauen“ (S. 122). Mit dem zweiten Bereich, „Auseinandersetzung mit dem Raum“, sei „die bewusste Wahrnehmung und Beschäftigung mit dem historischen Erbe in den ehemaligen deutschen Ostgebieten durch ihre neuen polnischen Bewohner gemeint“ (124f., wobei nicht nur Gebiete behandelt werden, die zu Deutschland in den Grenzen von 1937 gehörten, sondern auch Danzig, das erst durch das Großdeutsche Reich annektiert wurde). „Die neuen polnischen Westgebiete Polens (sowie in geringerem Maße auch das neue ‚künstliche‘ Grenzland im Osten der DDR)“ (S. 126) hätten in den Augen von Claudia Kraft zu Fragen nach der Geschichte dieser Gebiete geführt und dadurch neue historische Projekte ermöglicht, aber die bisherigen ‚Leistungen‘ seien keineswegs immer zufriedenstellend:

 

„Es fällt nicht nur in Breslau, sondern auch in Danzig auf, dass der Rekurs auf einstige Multiethnizität und Toleranztraditionen nicht zuletzt der Integration in die ‚westeuropäische‘ Geschichte dienen soll. Dabei wird das angeblich multikulturelle Erbe manchmal in unzulässiger Weise überbetont und unangenehme Ereignisse, wie etwa die gewaltsame Trennung von der deutschen Bevölkerung, werden teilweise ausgeblendet. Als ein Beispiel für eine solche Schwerpunktsetzung kann im Falle Breslaus das von der Breslauer Stadtregierung in Auftrag gegebene Buch zweier britischer Historiker zur Stadtgeschichte gelten.“ (S. 134f.).

 

Zu betonen sei „die Bedeutung der Euroregionen“, die „finanzielle und strukturelle Ressourcen gerade für die so wichtigen grenzüberschreitenden Projekte“ bieten, die wiederum „durch ihre konstruktive Auseinandersetzung mit der Vergangenheit zum Aufbau einer neuen regionalen Identität beitragen“ können (S. 138). Was das Ziel dieser breit angelegten Aufbauarbeit sei, erläutert Claudia Kraft nicht. Der Widerspruch zwischen dem ihrem Plädoyer zugrunde liegendem Ziel, das „Europäische Netzwerks“ einerseits möge „einen wichtigen Beitrag zur Schaffung einer ’europäischen Identität‘ leisten“ (S. 121), und ihrem Wunsch andererseits nach dem ‚Aufbau‘ neuer regionaler Identitäten, die auf der Wahrnehmung und Beschäftigung mit dem „historischen Erbe in den ehemaligen deutschen Ostgebieten“ beruhen sollen, erweckt den Verdacht, daß hier der Versuch unternommen wird, eine neue ‚europäische‘ Identität und das mentale Festhalten an älteren deutschen Besitzansprüchen im östlichen Europa miteinander in Einklang zu bringen und damit die Folgen der Grenzveränderungen von 1945 durch eine spezifische Form des Erinnerns an die Vertreibung zumindest kulturhistorisch und mentalgeschichtlich zu revidieren.

 

Die beiden Beiträge über Tschechien präsentieren eine andere Perspektive. Tomáš Kafka, seit 1991 Mitarbeiter des Tschechischen Außenministeriums und 1998-2005 Geschäftsführer des Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds und durch diese Tätigkeiten ein erfahrener Vergangenheitspolitiker, bilanziert seine Erfahrungen auf dem Gebiet der deutsch-tschechischen Erinnerungspolitik (S. 163-172). Die Frage, wie man zur Geschichte stehe, habe sich zu einem „Gesinnungstest“ entwickelt: „So sind wir alle, europaweit, bei dem Praktizieren der Vergangenheitsbewältigung dermaßen mit unserer Leistungsfähigkeit beschäftigt, dass man zulässt, dass aus dem Objekt unserer Bestrebungen statt einer Chance für moralische Katharsis eher eine Sportdisziplin entsteht.“ (S. 164) Das Thema ‚Flucht und Vertreibung‘ sei zum Spielball der „traditionell verpackten Rivalitäten in den deutsch-tschechischen beziehungsweise österreichisch-tschechischen Beziehungen“ geworden, und in der Kampagne um die sogenannten Beneš-Dekrete könne man einen „ihrer zähesten Zweikämpfe“ erkennen. Kafka bedauert diesen Zustand, weil er in der tschechischen Öffentlichkeit zu Ermüdung, zu leichten Frustrationen wegen der beharrlichen Wiederkehr alter Streitigkeiten, zu einer wachsenden Allergie gegen die Instrumentalisierung dieser Diskussion, zu einem Gesinnungstest für Deutsche und Tschechen und nicht zuletzt auch zu dem Gefühl führe, „dass man wegen der 13 Jahre, die unser Versuch mit der Geschichte der Jahre 1945-1948 einschließlich der Flucht und Vertreibung kumulativ in Anspruch nahm, die folgenden 40 Jahre der kommunistischen Diktatur in der Tschechoslowakei vernachlässigt hat“ (S. 166). Kafka weist auf die gemeinsam durchgeführten und finanzierten zahlreichen wissenschaftlichen, Ausstellungs- und Film-, Veröffentlichungs-, Konferenz-, Festival- oder Renovierungsprojekte des Zukunftsfonds hin: „Die hier exemplarisch vorgestellte Vielfalt der Projekte, die der Zukunftsfond seit seiner Gründung fördern durfte, beweist, wie groß das gemeinsame Interesse an Verständigung und gegenseitiger Perspektivenöffnung letztendlich ist“ (S. 166).

 

Historiographisch anschaulich wird die gemeinsame deutsch-tschechische Kooperation im Bereich der Erinnerungskultur im zweiten Beitrag des regionalen Teils „Tschechien/Österreich/Slowakei“. Darin finden wir zehn Thesen zweier namhafter Historiker aus Deutschland und Tschechien (Detlef Brandes/Jiří Pešek: Thesen zur Vertreibung und Zwangsaussiedlung aus der Tschechoslowakei, S. 173-182). Dieser Beitrag zeigt, wie sehr der neueste Forschungsstand der Geschichtsforschung von den bis heute populären deutschen Erinnerungsbildern an die Vertreibung der Deutschen aus der Tschechoslowakei abweicht. So habe es sich bei den bekanntesten Massakern an der deutschen Bevölkerung in der Nachkriegstschechoslowakei – etwa dem Aussiger Massaker – keineswegs um „Ausbrüche des spontanen Hasses des tschechischen Volkes“ gehandelt, sondern um „gezielt organisierte Unternehmen der tschechoslowakischen Heeresabwehraufklärung (in enger Zusammenarbeit mit der Roten Armee)“. Der so genannte „Brünner Todesmarsch“ gehöre typologisch auch dazu, „obwohl es sich hier eher um einen Akt der organisierten Vertreibung ohne Tötungsziel handelte, allerdings mit fatalen Folgen, als die Rote Armee die Vertriebenen an der österreichischen Grenze nicht übernahm und in den Notlagern bei Pohrlitz eine Epidemie ausbrach, die 455 Menschen das Leben kostete“ (S. 180). Die beiden bekannten Historiker der deutsch-tschechischen Beziehungen liefern damit ein Beispiel dafür, wie die internationale Kooperation von Historikern eine kritische Auseinandersetzung mit traditionellen Erinnerungsbildern in den jeweiligen  Nationalgesellschaften anregen und damit die nationalen Diskurse bereichern könnte. In den deutsch-tschechischen Beziehungen mangelt es bisher weniger an institutionalisierten Grundlagen für eine Zusammenarbeit interessierter Historiker, sondern  viel mehr an der Rezeptionsfähigkeit der – in diesem Fall deutschen − Öffentlichkeit, gelten doch die beiden Erinnerungsorte Aussig und Brünn nach wie vor als Symbole der sog. wilden Vertreibung und eines spontanen Hasses der tschechischer Nation, denen das Leben Tausender deutscher Zivilisten zum Opfer gefallen sein soll.

 

Auch die beiden Beiträge über die Slowakei bringen bedenkenswerte Erfahrungen der letzten 15 Jahre zum Ausdruck. Sie sind der Erinnerung an die Umsiedlung von rund 90 000 Ungarn aus der Slowakei im Zuge der bilateralen tschechoslowakisch-ungarischen Verträge nach dem Zweiten Weltkrieg (Miroslav Kusý: The Tabooed History of Hungarians in Slovakia, 1945-1948, S. 183-186) und der „’Vertreibung und Aussiedlung’ aus Sicht der slowakischen Gesellschaft und Historiografie nach 1989“ gewidmet (Edita Ivaničková S.187-196). Aus beiden geht hervor, daß das Thema ‚Vertreibung’ in der Slowakei anders als in Tschechien erinnert wird, weil ‚Zwangsumsiedlung und Vertreibung‘ in den beiden Staaten unterschiedliche historische Erfahrungen repräsentieren und dementsprechend eine unterschiedliche Rolle in der Geschichtsforschung ebenso wie im Erinnerungsdiskurs beider Gesellschaften spielen. Diese Tatsache – unterschiedliche Erfahrungen führen schon in zwei nationalen Gesellschaft innerhalb eines Staates bis heute zu weitgehend unterschiedlichen Formen des Erinnerns – sollte als eine anregende Erfahrung für alle Versuche einer ‚Europäisierung‘ der Erinnerungen an die Vertreibung verstanden werden, ein Punkt, der jedoch  im Rahmen dieses Sammelbandes nicht wieder aufgenommen wurde.

 

Es gehört zweifellos zu den Verdiensten dieses Bandes, daß hier auf bisher kaum diskutierte Probleme hingewiesen wird, die die weitgehende Erfolglosigkeit des Konzepts ‚Europäisches Netzwerks‘ erklären. Sehr aufschlußreich sind diesbezüglich die beiden Beiträge aus Wien und Paris. Die Wiener Kulturwissenschaftlerin Heidemarie Uhl steuert außergewöhnlich kluge Beobachtungen über das deutsche Erinnern an die Vertreibung im Vergleich zu der Entwicklung in Österreich bei (S. 69-75). Ihr Vergleich regt vor allem zu einer kritischen Überprüfung des heute modischen Hantierens mit dem Schlagwort „Erinnerung“ an. Frau Uhl zeigt, wie dieses Schlagwort dazu dient, die innergesellschaftlichen Deutungskämpfe zu verschleiern: „Was in den letzten beiden Jahren in der Gedächtniskultur der Bundesrepublik beobachtet werden konnte, ist die Transformation der partikularen Erinnerungskultur einer gesellschaftlichen Teilgruppe – der Vertriebenenverbände – zu einem Bezugspunkt von identitätsstiftender Relevanz für das Gedächtnis der ganzen Nation“ (71f.). Der Zusammenhang zwischen dem Erinnern an den Holocaust und an die Vertreibung sei im Zuge dieser Entwicklung gefestigt worden: „Auch wenn das ‚Zentrum gegen Vertreibungen‘ nicht in der geplanten Form realisiert werden sollte, die Bilder der Vertreibung stehen nun im Bildgedächtnis Deutschlands neben jenen des Holocausts“ (S. 73). Sie weist auch – und dies ist von besonderer Bedeutung für die Diskussionen über die ‚Europäisierung‘ des Erinnerns – auf eine im europäischen Kontext sehr spezifisch bundesdeutsche Entwicklung hin: Im Unterschied zu anderen europäischen Nationen scheine die BRD „jene Phase der Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit, die seit den Achtzigerjahren unter dem dominanten Vorzeichen der Schuldfrage stand, gerade hinter sich zu lassen“ (S. 75). Daraus ergibt sich für die Frage nach der mangelnden Akzeptanz des Europäisierungskonzepts außerhalb der Grenzen Deutschlands, ob es nicht klüger sei, sich weniger auf die Kritik der Polen, Tschechen oder anderer Nationen zu konzentrieren und deren Mangel an Einsicht zu beklagen, sondern die spezifischen Züge bundesdeutschen Erinnerns zu erforschen.

 

Thomas Serrier aus Paris legt fünf Thesen aus französischer Sicht „Zur Europäisierung des deutschen Erinnerungsortes ‚Flucht und Vertreibung‘“ vor (S. 97-106), und jede einzelne würde eine ausgiebige Aufmerksamkeit verdienen. Er zeigt, daß in Frankreich die jüngste sog. neue deutsche Welle des Erinnerns „als eine vorrangig deutsche Debatte mit internationalen Auswirkungen“ gesehen werde, daß dort die Anerkennung der Opferperspektive auch der Deutschen als legitim angesehen und akzeptiert werde, daß aber auch die deutsche Ostpolitik nach wie vor mit besonderer Wachsamkeit beobachtet werde und das tief sitzende Schuldgefühl gegenüber den ostmitteleuropäischen Staaten, daß durch die Erinnerung an „München 1938“ und „Marcel Déats nicht gerade glorreichen Artikel ‚Mourir pour Dantzig?‘ aus dem Jahre 1939“ keineswegs vergessen worden sind:

 

„Der Verdacht eines Zusammenspiels zwischen den als sehr negativ angesehenen Vertriebenenverbänden einerseits und der Bundesregierung andererseits könnte sich auch heute noch an einer offiziellen Unterstützung des Vertriebenen-Projektes entfachen, und – wenn auch in kleinerem Maße als in Ostmitteleuropa – an dem nicht immer widerspruchslosen Deutschlandbild der Franzosen Schaden anrichten“ (S. 101).

 

Neben dieser warnenden Ermahnung kritisiert Thomas Serrier die bisher aus unerklärlichen Gründen zu beobachtende Nichtberücksichtigung Frankreichs und dessen Elsaß- und Algerienerfahrungen mit Vertreibungen und Zwangsmigrationen im deutschen ‚Europäisierungs-Projekt‘; er wirft auch die Frage auf, warum sich das ‚Europäisierungsprojekt‘ auf Ostmitteleuropa konzentriere, ohne die für die Vertreibung der Deutschen mitverantwortlichen Großmächte USA, Großbritannien und Rußland einzubeziehen, und regt an, Begriffe und Theorien aus der außereuropäischen Geschichte, z.B. aus der postkolonialen Forschung, zu nutzen.

 

‚München 1938‘ und ‚Mourir pour Dantzig‘ repräsentieren zwei (in diesem Band nicht thematisierte) gesamteuropäische Erinnerungen, die in unmittelbarem Zusammenhang mit der Vertreibung der Deutschen aus der Tschechoslowakei und aus Polen stehen. Von der deutschen Geschichte her gesehen steht beides für die breite Unterstützung der deutschen Öffentlichkeit für das NS-Projekt, die Ostgrenzen des Deutschen Reiches mit Gewalt zu verändern, während beides in anderen europäischen Staaten an das anfängliche Zögern (München 1938) und an die bald danach doch mit schwerem Herzen getroffene Entscheidung der britischen und französischen Regierung gemahnt, einen Krieg gegen das expansionistische NS-Projekt, Deutschlands Ostgrenzen gen Osten hinauszuschieben (Danzig 1939), auf sich zu nehmen. In beiden Fällen standen im Mittelpunkt der für das gesamte Europa dramatischen Ereignisse die deutschen Minderheiten. Zwischen ‚München 1938‘ und ‚Danzig 1939‘ lagen Auseinandersetzungen in der freien Welt, die als der Anfang des Weges zur Umsiedlung der deutschen Minderheiten aus der Tschechoslowakei und aus Polen nach dem Ende des Krieges erinnert werden.

 

Möchte man die Erinnerung an die Vertreibung der Deutschen ‚europäisieren‘, dann scheint es erfolgsversprechender, nicht nur von den deutschen Erfahrungen auszugehen, sondern auch die Erfahrungen anderer Europäer mit einzubeziehen. Jene Deutsche, die nach dem Ende des Krieges als evakuierte Ostflüchtlinge in Deutschland lebten und aus Polen und der Tschechoslowakei umgesiedelt wurden, hatten die für den gesamten europäischen Kontinent dramatischen Entwicklungen seit 1938 völlig anders erlebt, und sie haben auch nach dem Kriegsende die Erfahrungen der ‚anderen’ kaum zu begreifen vermocht. Wenn sie über ihre Erfahrungen erzählen, wissen sie wenig darüber zu berichten, wie die damals vom NS-Deutschland bedrohten Teile der europäischen Öffentlichkeit den Weg in den Krieg erlebten und warum sie nach dem Kriege bereit waren, die Umsiedlung der deutschen Minderheiten aus Polen und der Tschechoslowakei hinzunehmen. Vielleicht müßte man erst die Kluft zwischen den unterschiedlichen historischen Erfahrungen zu überwinden suchen, die vor und während des Zweiten Weltkrieges Europa entzweit haben, bevor man sich um gemeinsame Erinnerungen an die Folgen, die dieser Krieg auch für die deutsche Zivilbevölkerung mit sich brachte, bemüht. Im Erinnern an die Vertreibung macht sich nämlich zwischen Deutschland und den ehemaligen Gegnern des NS-Regimes die frühere Kluft nach wie vor bemerkbar, und so lange diese Kluft nicht überwunden wird, solange wird es kaum gelingen, den deutschen Erinnerungsort ‚Flucht und Vertreibung’ zu europäisieren.

 


 

[1] Norman M. Naimark: Fires of Hatred: ethnic cleansing in twentieth-century Europe, Cambridge, Mass. 2001; deutsch als Norman M. Naimark: Flammender Haß. Ethnische Säuberung im 20. Jahrhundert, aus dem Amerikanischen von Martin Richter, München 2004

[2] Wie fehlerhaft Norman Naimarks Aussagen in seinem Buch über die Vertreibung der Deutschen aus der Tschechoslowakei sind, hat Tomáš Staněk in seiner detaillierten Rezension festgehalten – vgl. Tomáš Staněk: Norman M. Naimark über „ethnische Säuberungen“ im 20. Jahrhundert, in: Bohemia 45/2, 2004, S. 485-497; siehe auch Eva Hahn/Hans Henning Hahn: Alte Legenden und neue Besuche des „Ostens“. Über Norman Naimarks Geschichtsbilder, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 54/2006, S. 687-700

[3] Eugen Lemberg: Geschichte des Nationalismus in Europa, Stuttgart 1950, S. 11