Ernst Lehmann: Um tiefere Wurzeln


Alle Zitate im folgendem Text sind dem Buch von Ernst Lehmann: Um tiefere Wurzeln. Sudetendeutsche Erinnerungen am Abgrund der Ersatzreligion, Verlagshaus Sudetenland, München 1979 entnommen und mit Seitenzahlen in Klammern am Ende jeweiliger Passage ergänzt


Im Jahre 1979 empfahl der damalige "Bundeskulturreferent der Sudetendeutschen Landsmannschaft", Oskar Böse, in seinem Vorwort die Erinnerungen von Ernst Lehmann als einen wichtigen Beitrag zur Geschichte der sog. Sudetendeutschen Heimat- und Volksbildungsbewegung:

"Der Titel der vorliegenden Schrift ‚Um tiefere Wurzeln’ weist auf die sudetendeutsche Heimat- und Volksbildungsbewegung zwischen den beiden Weltkriegen hin, die einstmals so manchen Beitrag zur Einigung der Sudetendeutschen leistete und der auch die landsmannschaftlichen Heimatgliederungen so manche Anregung verdanken. Die nachfolgende Darstellung dieser Bewegung von der Zeit der Böhmerlandwochen bis zur Gründung der ‚Gesellschaft für deutsche Volksbildung in der tschechoslowakischen Republik’ schlägt zugleich Brücken zu den Anfängen der Kulturarbeit der Heimatvertriebenen nach1945 bis zur Gründung des ‚Ostdeutschen Kulturrates’. Sie erweist zugleich diese Anfänge weithin ebenso wie die ostkundlichen Bestrebungen als aus sudetendeutschen Wurzeln erwachsen. Diese Veröffentlichung ist zugleich ein Beitrag zur Geschichte des evangelischen Sudetendeutschtums, denn der Verfasser schildert nicht nur seine Erfahrungen im kirchlichen Dienst, er zeigt auch seine Bemühungen im Bereich der Kirche, die Anliegen der Heimatvertriebenen und besonders der Sudetendeutschen zur Geltung zu bringen.
Diese Schrift bietet aber nicht nur Erinnerungen. Darauf weist bereits der Untertitel ‚Am Abgrund der Ersatzreligionen’ hin, der dem Geschichtswerk unseres Landsmanns Dr. Hermann Ullmann ‚Der Weg des XIX. Jahrhunderts’ entlehnt ist. Damit wird zugleich eine Geschichtsdeutung versucht, die einer Bewältigung des Schicksals der Vertreibung dienlich zu sein vermag. In einem Schlußwort wird versucht, Wege zum Verständnis dieser Situation ebenso zu weisen wie auch zur Erkenntnis unserer Identität und Aufgaben. Nicht unwichtig sind die volkskundlichen Hinweise aus Ernst Lehmanns und seines Vaters reichhaltigen Forschungen." (S. 5)

In der Tat kann das Buch als eine Schatztruhe wenig bekannter Hinweise zur Geschichte der sudetendeutschen völkischen Bewegung gelesen werden; etwa darüber, wie die NS-Schriftsteller Bruno Brehm, Robert Hohlbaum, Wilhelm Pleyer, Heinrich Zillich et al. den Vertriebenen „zur Gestaltung von Heimatabenden" empfohlen wurden (S. 98), als die NS-Volkstumsideologen die "Heimatbewegung" in den Vertriebenenorganisationen der Bundesrepublik zu etablieren halfen. Darüber berichtet Ernst Lehmann in seinen Erinnerungen ausfürhlich und im Jahre 1979 konnte er zufrieden konstatieren, daß seine völkische Heimatbewegung, „eigentlich die Grundlage der landsmannschaftlichen Zusammenschlüsse bildet und in den Heimattreffen bei den großen landsmannschaftlichen Tagungen wie beim Sudetendeutschen Tag, und in den vielen Heimattagungen der einzelnen Heimatgliederungen zumeist in Verbindung mit den Patenorten sich Jahr für Jahr in erfreulicher Weise machtvoll äußert" ( S. 132f.).

Für die gesamte deutsche Öffentlichkeit sind dagegen etwa Ernst Lehmanns Hinweise auf die bemerkenswerte Rolle der sudetendeutschen Ideologen bei der Entstehung der „Charta der deutschen Heimatvertriebenen“ vom Interesse:

„Von besonderer Bedeutung wurde in diesem Zusammenhang ein Vortrag von Prof. Dr. Lemberg über ‚Die Ausweisung als Schicksal und Aufgabe’, in dem er, viele unserer Erwägungen zusammenfassend, aufwies, daß wir nicht nur, wie etwa Elisabeth Pfeil in ihrem Werk ‚Der Flüchtling’ zeigte, Gestalten einer Zeitenwende sind, sondern Pioniere neuer Ordnungen der Völker werden sollten. Den zuerst auf dem Ludwigstein gehaltenen Vortrag wiederholte er beim Sudetendeutschen Tag in Bayreuth 1949. Im gleichen Jahr noch ließ er ihn in einer Schriftenreihe des Adalbert Stifter-Vereins erscheinen. Aus dem Geist dieses Konzeptes ist ein Jahr später am 5. 8. 1950 zu Stuttgart-Cannstatt die ‚Charta vertriebener Deutscher’ bekannt worden, aber zuvor auch 1949 die sogenannte ‚Eichstätter Deklaration’, die aus dem Kasseler Kreis neben Lemberg auch Prof. Dr. Preißler unterzeichnete. So wurden Grunderkenntnisse der hessischen Orientierungsgespräche sehr rasch zum Allgemeingut der Vertriebenen, nicht aber der Massenmedien, wie etwa das höchst bescheidene Presseecho bezeugte, das 25 Jahre nach der Bekanntgabe der ‚Charta’ mit ihrem Verzicht auf Rache und Vergeltung trotz Aufgebotes einer Reihe prominenter Redner und Zuhörer am 18. 8. 1975 ausblieb. Dabei sollte man diese ‚Charta’ bekannt von den am härtesten Betroffenen, als die erste Gewaltverzichtserklärung der Nachkriegszeit verstehen, wie Ministerpräsident Filbinger ausführte. Den Palästinensern, mit deren Terror sich die Welt weithin beständig zu befassen hat, billigen weite Kreise das Recht auf Rache und Vergeltung zu, auf das die deutschen Vertriebenen bereits 1950 feierlich verzichteten. Soll nun aber das Selbstbestimmungsrecht nur für Palästinenser und Neger gelten?“ (S. 91)

Aus Ernst Lehmanns Memoiren geht auch deutlich hervor, wie die NS-Ideologie und ihre Bilder von etwa der "tschechischen Schreckensherrschaft" (S. 68) oder vom "tschechischen Vernichtungswillen“ im Dienste des Nationalstaatgedankens" (S. 69) in das bundesdeutsche historische Bewußtsein hineingetragen wurden:

„Nach einem Gespräch in der Eisenbahn von Espelkamp nach Düsseldorf mit dem befreundeten Kulturreferenten des Sozialministeriums von NRW, Karl Gründer, der die Bezahlung für alle Schule von NRW zusagte, konnte ich als Organ dieser Bundesarbeitsgemeinschaft [d. h. „Bundesarbeitsgemeinschaft für deutsche Ostkunde im Unterricht“] ab 1955 vierteljährlich die westostdeutschen Blätter für Erziehung und Unterricht ‚Deutsche Ostkunde’ herausgeben und bis 1966 redigieren. Dank ministerieller Beihilfen können diese Blätter wohl auch heute noch allen Schulen in NRW, Berlin, Schleswig-Holstein, Hamburg zugehen. Sie liegen aber auch den Lehrerblättern der Sudetendeutschen und Donauschwaben regelmäßig bei. Von sudetendeutscher Seite wollte man mir es zunächst nicht glauben, daß wegen der hohen Auflage von etwa 17 000 Stück an Stelle eines sudetendeutschen Heftes ein ganzer Jahrgang der ‚Deutschen Ostkunde’ zum Beischluß geliefert werden konnte.“ (Ernst Lehmann: Um tiefere Wurzeln, S. 109)

Ernst Lehmann verstand die sog. Ostkunde als „eine gesamtdeutsche Aufgabe und Beitrag zur Revision des Geschichtsbildes“ (S. 110). Die in der Bundesrepublik gängigen Geschichtsbilder gefielen ihm nicht: „Im Banne einer kleindeutschen Geschichtsauffassung setzte man sich auch wohl zu wenig für ein gesamtdeutsches Geschichtsbild und für die weltweite Bedeutung der Volksgruppen und ein auf das rechte Volksverständnis gegründetes Volksgruppenrecht ein.“ (S. 113) Diese revisionistischen Bestrebungen sind auf Lehmanns Begeisterung für die großdeutsche NS-Ideologie zurückzuführen und können kaum mit seinen Vertreibungserfahrungen in Verbindung gesetzt werden. Seine Erinnerungen an die Vertreibung waren sicherlich keine guten Erinnerungen, aber über Erlebnisse einer tschechischen „Schreckenherrschaft“ oder eines „tschechischen Vernichtungswillen“ berichtete er nicht. Er selbst erlebte das Kriegsende nicht in der Tschechoslowakei: „Auf einem Fahrrad schlug ich mich mit den letzten acht Kameraden meiner Einheit zu unserer Kommandantur in Padua durch. Mit dieser gelangte ich nach verlustreichen Kämpfen mit Partisanen über die Alpen und in USA-Gefangenschaft in Bayern.“ (S. 84) Über die Erfahrungen in der Tschechoslowakei berichtete ihm jedoch seine Frau:

„Meine Frau berichtete u. a., daß sie beim Herannahen der Russen mit den Kindern Reichenberg verließ und zu ihrer Mutter nach Teplitz-Schönau fuhr. Aber auch dorthin kamen die Russen sehr bald. Als bekanntgegeben wurde, daß derjenige, der an einem Stichtag seine Wohnung nicht bewohnt, ihrer verlustig erklärt würde, kehrte sie mit der zwölfjährigen Tochter nach endloser und menschenunwürdiger Fahrt in einem überfüllten Viehwagen nach Reichenberg zurück. Dort fand sie die Wohnung mit russischen Soldaten belegt. Es gelang ihr aber, sie freizubekommen. Dafür mußte sie die nächtlichen Besuche dieser Soldaten in Kauf nehmen, die sich aber tadellos aufführten und nur kleine Wünsche äußerten in Bezug auf Kleidungsinstandhaltung oder Verpflegung. Recht oft fiel von den kinderlieben Soldaten sogar etwas von ihren Lebensmitteln für die Tochter ab. Eines Tages verlangte bewaffnete Soldateska Einlaß. Nach einer gründlichen Hausdurchsuchung, vor allem der Bücher, (es war bereits die 2. Hausdurchsuchung durch Tschechen) wollte man meine Frau ohne weitere Erklärung als Geisel für mich festnehmen. Aus tschechisch geführten Gesprächen entnahm sie schließlich, daß eine Partei im Hause mich als SS-Angehörigen denunziert hatte. Nun war es ihr leicht möglich, mit Hilfe von Lichtbildern, der Feldpost Nr. und von Feldpostbriefen diese Anschuldigungen als haltlos zurückzuweisen.
Wegen des in Teplitz krank zurückgelassenen zweijährigen Sohnes kehrte sie kurz darauf wieder dort zurück. In Teplitz nicht als wohnhaft gemeldet, wurde sie bald mit den Kindern, dem Kinderwagen und einem Handwagen mit zwei großen Koffern gemeinsam mit vielen anderen Leidensgenossen nach Zinnwald transportiert und dort den Russen ‚übergeben’, d. h. sie wurde ohne Geld, Lebensmittelkarten oder Aufenthaltsgenehmigung und ohne einen Rat für die Zukunft in Nichts’ entlassen.“ (S. 85)

In Ernst Lehmanns Augen verstanden seine neuen Nachbarn in Westdeutschland die Geschichte der Vertreibung nicht richtig:

„Wie vielen unzureichenden Vergleichen galt es entgegenzutreten, insbesondere bei der einheimischen Verwaltung, und ihr verständlich zu machen, daß es dabei nicht nur um soziale Deklassierung geht, sondern um die Vernichtung einer mehr als achthundertjährigen Kulturarbeit. Die Verlagerung der ostdeutschen Volksstämme nach dem Westen zieht auch diesen in Mitleidenschaft, so daß man mit [Eugen] Lemberg vom Werden eines neuen Volkes aus West- und Ostdeutschen sprechen muß, usw. Aber auch den Illusionen in den eigenen Reihen war zu begegnen, nach denen eine baldige Heimkehr bevorstehe und es sich daher gar nicht lohne, hier im Westen den Fuß zu fassen, da dies sogar als Verrat an der Heimat gewertet wurde. So galt es, in vielen Aussprachen und Vorträgen gegen einen unfruchtbaren Nihilismus ebenso wie gegen eine Vergoldung des Einst den Sinn des Unfaßbaren zu deuten und Kräfte aus dem Heimaterbe zu aktivieren. In verschiedenen fruchtbaren Gesprächen und in einer Reihe von Tagungen wurde erkannt, daß die Vertreibung nicht nur der Vollendung der Nationalstaaten im Osten diente, sondern daß sie den Westen sturmreif machen sollte für die ‚Segnungen’ des Kommunismus, denn längst hatte Stalin Benesch und seinesgleichen überspielt und den Nationalstaatsgedanken der Vertreibungsvölker in sein weltweites Konzepteiner kommunistischer Weltherrschaft aufgenommen.“ (S. 89f.)

Somit begegnen wir in Ernst Lehmanns Memoiren wertvollen Hinweisen darauf, wie und in welchen Kreisen der bundesdeutschen Gesellschaft der Anti-Versaille-Revisionismus zu dem bis heute populären Anti-Potsdam-Revisionismus fortentwickelt und die bis heute populäre Interpretation der Vertreibung als einer vermeintlichen Folge der nach dem Ersten Weltkrieg errichteten neuen Staatenordnung im östlichen Europa, herausgerissen aus dem Kontext des Zweiten Weltkriegs, in der deutschen Öffentlichkeit popularisiert wurde. Für nähere Aufschlüsse über das dieser Interpretation zugrundeliegende antidemokratische Gedankengut vgl. Ernst Lehmann: Volksgemeinschaft aus Nachbarschaften