Bernard Bolzano: Über das Verhältniß der beiden Volkstämme in
Böhmen.
Drei Vorträge im Jahre 1816 an der Hochschule zu Prag gehalten,
Wien 1849
„[…] Doch Sie entgegnen mir, daß ich des wichtigsten Grundes der Zwietracht und
Erbitterung unter den Bürgern unsers Landes noch nicht erwähnt habe. Sie meinen
die Rückerinnerung an jene Vorfälle widrigen Andenkens, durch die es geschah,
daß neben der böhmischen Sprache in unserm Lande noch eine deutsche herrscht;
ingleichen das zum Theile noch jetzt fortdauernde Verhältniß der Unterdrückung
und Übervortheilung, in welchem der eine Theil des Volkes zum andern steht. So
empfindlich auch die Berührung dieses Punctes ist m. Fr., so war ich doch nicht
gesonnen, ihn mit Stillschweigen zu übergehen. Denn was hälfe es uns, daß wir
den Krebsschaden, der an uns nagt, uns selbst und andern zu verhehlen suchten?
wird eine Wunde dadurch, daß man sie blos zudeckt, schon geheilt? Gestehen wir
es also, gestehen wir es immerhin, das sei wirklich das größte Unglück unsers
Volkes, daß die Bestandtheile desselben nicht gleich anfangs – nicht durch
freiwillige Vereinigung – sondern größtentheils durch äußeren Zwang
zusammengebracht worden sind! und daß auch heut zu Tage der eine Theil – dem
andern zu Trotz – nur allzusehr begünstigt, und über ihn emporgehoben wird!
Daß sich die Rückerinnerung an Übervortheilungen und an Unbillen, die man den
Vorfahren zugefügt, auch auf die Enkel fortgepflanzt, ist etwas begreifliches,
zumal wenn die Folgen derselben noch immer fortdauern oder wenn man sogar zum
alten Unrecht immer neues hinzufügt! Und das geschieht hier wirklich. Denn
werden nicht immer noch die Deutschgebornen im Lande und jene, die sich ihnen
angeschlossen, in hundert sehr wichtigen Stücken bevorzugt? ist es nicht die
deutsche Sprache, in welcher alle höheren Wissenschaften im Lande vorgetragen
werden? die man auch zur Geschäftsprache in allen öffentlichen Angelegenheiten
erhoben hat? Muß dies, so wenig es auch an sich getadelt werden kann, dem
anderen Theil des Volks nicht gleichwohl sehr unangenehm sein? muß dieser nicht
die Zurücksetzung, welche er hier erfährt, mit Bitterkeit empfinden? Aber noch
mehr; sind nicht die Großen und Vornehmen des Landes, sind nicht die Reichen und
Begüterten im Volke Alle, Alle nur Eins von Beiden, entweder geborne Deutsche
und wohl gar Ausländer, oder doch solche Personen, die, weil sie längst schon
die böhmische Sprache und Sitte abgelegt, den Deutschen beigezählt werden? Lebt
nicht der böhmisch-sprechende Theil des Volks durchgängig nur in einem
bedauernswürdigen Zustande der Armuth und der Unterdrückung? Und was das
empörendste ist, hat man diesen nicht allerorts zu seinen Vorgesetzten Personen
gegeben, die Deutsche sind, oder doch den Deutschen angehören? Personen, die,
weil sie der Sprache, die er spricht, nicht einmal kundig sind, die Beschwerden
und Klagen, seine Gesuche und Bitten, die Gründe, welche er zu deren
Unterstützung vorbringt, gar nicht zu würdigen im Stande sind? die auch kein
Herz zu ihm haben; ihn nicht als ihres Gleichen ansehen, und folglich auch gar
nicht väterlich ihn behandeln, sondern vielmehr ganz nach dem Vorbilde jener
egyptischen Zuchtmeister beherrschen und bis aufs Blut aussaugen? [2. Mos. 1,
8-13]
Wer kann in unserm Lande gelebt oder es auch nur flüchtig durchgereiset haben,
ohne die Wahrheit dessen, was ich hier sage, bestätigen zu müssen? Wer mag sich
also noch wundern, daß so gar kein Gemeingeist in unserm Volke anzutreffen ist?
daß der Böhme und der Deutsche nie gern gemeine Sache mit einander machen? daß
sie vielmehr einander verachten, fliehen und hassen? Nein meine Freunde, zu
wundern hat man sich nicht hierüber; erklärbar und natürlich geht es, wie mit
der Entstehung von allem Bösen in der Welt, so auch mit jener Abneigung zu, die
zwischen den beiden Volkstämmen unsers Landes herrscht. Aber muß wohl ein Übel
darum, weil es erklärbar und natürlich entstanden ist, auch unvermeidlich
heißen? — Das Beispiel der ersten Christen zeigt uns auch hier wieder das
Gegentheil. Denn wenn der böhmische Theil unseres Volkes dem deutschen Unbillen
und Übervortheilungen vorwirft: um wie viel mehr Ursachen hatten die Nachkommen
Israels nicht, über Mißhandlungen von Seite der Hellenen zu klagen? Aber wer
immer das Christenthum annahm, vergaß auch das Vergangene, und in Betreff der
Gegenwart ertrug er mit Geduld, was – sich nicht abändern ließ, und suchte im
Geiste der Liebe Alles bestmöglich auszulegen und zu entschuldigen – durch die
Verhältnisse der Zeit. Möchte dies Beispiel uns nicht umsonst gegeben worden
sein, m. F.! Möchten wir es in unserer jetzigen Lage erneuern und der Welt zum
zweitenmal beweisen, wie mitten unter den stärksten Versuchungen zur Zwietracht
und Uneinigkeit, ein Reich der Eintracht und des Friedens hervorgehen und Glück
und Segen über die Menschheit ausbreiten könne. Nur der Eintracht hatte das
Christenthum seine Erhaltung und schnelle Ausbreitung zu verdanken. Und o wer
weiß, wie vieles Gute auch durch uns bewirkt werden kann, wenn wir mit eben dem
Eifer, wie jene ersten Christen, beitragen und befolgen die Worte des Apostels:
Betrachtet euch Alle nur als Glieder Eines und ebendesselben Leibes; Christum
den Herrn aber als euer Oberhaupt! Amen.“ (Ebenda, S. 24-27)
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„Wenn wir die Abneigung, die zwischen den beiden Volkstämmen unsers Landes
herrscht, glücklich bekämpfen, und Eintracht und Gemeinsinn unter uns herstellen
wollen m. Fr., so muß unsre vornehmste Sorge offenbar darauf gerichtet sein, daß
wir die Ursachen, die diese Abneigung hervorgebracht haben, oder doch jetzt noch
unterhalten, nach aller Möglichkeit beseitigen und unwirksam machen.
1. Der Untersuchung zufolge, die wir in unsrer vorletzten Versammlung
angestellt, steht dem Gemeingeist in unserm Vaterlande kein wichtigeres
Hinderniß entgegen als seine Sprachverschiedenheit. Wer diese ganz beseitigte,
wer es dahin brächte, daß von den Bewohnern unsers ganzen Landes nur einerlei
Sprache gesprochen würde, der würde der größte Wohlthäter unsers Volkes werden;
so wie derjenige, der auf dem ganzen Erdenrunde einerlei Sprache ein-führte, der
größte Wohlthäter der ganzen Menschheit sein müßte. Allein mit so viel
Zuversicht wir auch behaupten können, daß dieses einst — nach vielen
Jahrtausenden meine ich, zu Stande kommen werde; — so viele Mühe sich auch die
weisen Vorsteher der katholischen Kirche gegeben, diese Zeit herbeizuführen; so
unleugbar wir es ihren Bemühungen zu danken haben, daß die Anzahl der
verschiedenen Mundarten und Sprachen in Europa, und der Grad ihrer
Verschiedenheit doch viel geringer ist, als er sonst geworden wäre; so offenbar
endlich die Erfahrung lehrt, daß sich die Menge der Sprachen auf Erden mit jedem
Jahrhunderte vermindert: so ist gleichwohl der glückliche Zeitpunkt, wo auch in
unserm Vaterlande nur einerlei Zunge herrschen wird, noch keineswegs als ein so
naher anzusehen. Um desto eifriger müssen wir in Anwendung alles desjenigen
sein, was diese Sprachverschiedenheit, solang sie noch unter uns besteht,
möglichst unschädlich machen kann. Das erste ist, daß wir den noch ganz
ungebildeten Theil unsers Volkes, die Böhmischen sowohl als die Deutschen, über
den Unterschied der Sprache gehörig aufklären. Wir müssen es diesen Unwissenden
erklären, woher der Unterschied der Sprache auf unserm Erdenrunde komme; wir
müssen ihnen zeigen, daß es ganz willkürlich sei, ob man die Dinge so oder
anders bezeichne, daß man aus Mangel der Verabredung bei den verschiedenen
Völkern der Erde nothwendig auch auf verschiedene Bezeichnung der Begriffe habe
verfallen müssen; daß der auf diese Art entsprungene Unterschied der Sprache
der allerunwesentlichste sei, der unter den Menschen nur immer stattfinden mag;
daß es daher die größte Thorheit sei, einen Menschen schon darum weil er in
einer andern Sprache sich ausdrückt als wir, für etwas Besseres oder für etwas
Schlechteres als uns selbst zu halten; daß es bei uns doch nur auf die
Gewohnheit ankomme, ob wir gewisse Töne angenehm oder unangenehm, wohl oder
übelklingend finden; daß daher nichts natürlicher als die Erscheinung sei, wenn
einjeder von uns die Töne seiner Muttersprache für die gefälligsten hält. Soviel
m. Fr. für den ganz ungebildeten Theil unsers Volkes. Den aufgeklärteren müssen
wir überdies bitten, daß er die Streitfrage, welche von beiden Sprachen doch an
sich selbst den Vorzug vor der andern verdiene, entweder ganz beiseite setze
oder doch nur mit der mög-lichsten Gelassenheit und Mäßigung behandle. Es ist
ein zweckloser Streit, weil sich aus seiner Entscheidung, wie sie auch immer
ausfalle, gar keine Folgerungen für das Leben herleiten lassen. Und so
gleichgültig es auch jedem Theil im Grunde sein soll, ob seine oder die Sprache
seiner Gegner in diesem Streite obsiegt, indem sich ja Niemand die Sprache
selbst gegeben hat: so heftig ereifert man sich dabei dennoch insgemein; so
tief gekränkt fühlt sich gewöhnlich derjenige, der zuletzt eingestehen soll,
daß seine Sprache wirklich die minder gebildete sei. Daher glaube ich denn m.
Fr., jeder vernünftige Mann sollte es sich zu einer Regel gemacht haben, nie
eine Sprache vor den Ohren solcher zu mißhandeln, die sie als ihre
Muttersprache verehren, wofern er anders nicht mit aller Gewißheit voraussetzen
kann, daß er Personen vor sich hat, welche über jeden Zweifel an der Wahrheit,
von der ich so eben redete, erhaben sind. Doch dieses Alles kann nur verhindern,
daß um des Sprachunterschiedes wegen keine Zwistigkeiten mehr unter Ihnen
entstehen. Er, dieser Unterschied selbst, wird noch nicht weggeräumt. Sie aber
sollen wissen, daß Sie auch zur Entfernung oder doch zur Verminderung dieses
Unterschiedes überaus viel, und weit mehr, als es den Feinden unsers Wohles lieb
ist, beizutragen vermögen. Vernehmen Sie wie? Jenem Theile von Ihnen, den Gott
berufen hat, daß er einst für das Heil der Seele in unserm Volke sorge, dem wird
auch anvertraut sein die oberste Leitung des Kinderunterrichts in allen Gegenden
des Landes. Und eben deshalb wird es Ihnen, wenn Sie nicht einige Mühe und
Arbeit zu Ihrem großen Zwecke scheuen, in diesem Verhältnis beinahe überall
möglich sein, die zarte Jugend, die in Ihre Schule strömt, und nur einer der
beiden Landessprachen allein kundig ist, auch mit der andern spielend vertraut
zu machen; fast nirgends werden Sie bei diesem Vorhaben von Seite der Obrigkeit,
und noch viel weniger von Seite der Eltern oder der Kinder selbst einen
Widerstand erfahren. Kinder und Eltern werden sich vielmehr recht herzlich
freuen, daß in Ihren Schulen etwas so offenbar Nützliches gelernt wird! Und wenn
Sie diesen Unterricht anders auf die gehörige Art einleiten, wenn Sie ihn nicht
durch Regeln, sondern durch unmittelbare Sprachübung ertheilen: so werden die
schnellen Fortschritte, die Ihre Zöglinge machen, Sie in Erstaunen setzen. In
weniger als Jahresfrist wird der Knabe, der vorher auch nicht ein einziges Wort
von seiner nachbarlichen Landessprache kannte, in ihr seine Gedanken
verständlich und fertig auszudrücken im Stande sein. Welch eine große nicht zu
berechnende Wohlthat, besonders für jeden böhmischen Bewohner unseres Landes!
Hat er die deutsche Sprache inne, so kann er nun wandern durchs ganze Land, und
findet überall Menschen, denen er sich verständlich mitzutheilen vermag! Hat er
die deutsche Sprache inne, so fließen nun alle Quellen der Bildung, aus welchen
seine deutschen Nachbaren schöpfen, auch für ihn ebenso reichlich als für sie!
Hat er die deutsche Sprache inne, so kann er sich die nöthige Kenntniß aller
Gesetze, die ihn angehen, verschaffen; so kann er sein Recht vor jedem
Gerichtstuhle suchen; so kann er sprechen mit der Obrigkeit, deren
Oberherrschaft von dem Geringsten anzufangen bis zu dem Höchsten im Lande
anerkannt wird. — Aber auch wenn der deutsche Landesbewohner die Sprache seiner
böhmischen Mitbürger gelernt hat, ist es ein großer Vortheil für ihn sowohl als
für das Ganze. Nun kann er ohne Dolmetsch auch mit jedem Böhmen sprechen, nun
sieht er sich nicht mehr gehaßt von diesem, sondern vielmehr geliebt, und auch
er selbst, er selbst gewinnt jetzt Liebe zu einem Volk, von dessen richtiger,
gesunder Urtheilskraft, von dessen Gut-müthigkeit und mancher andern noch
verkannten Tugend er, seit dessen Sprache ihm bekannt ist, täglich neue Proben
erhält. Brauche ich es erst zu sagen m. Fr., was sich hieraus so einleuchtend
ergibt, daß es für jene Deutsche, welche das Schicksal in irgend einer Rücksicht
zu Vorgesetzten über Böhmen erhebt, eine der heiligsten Pflichten sein müsse,
die Sprache ihrer Untergebenen zu erlernen? Denn ohne diese zu verstehen, ist es
fürwahr kaum möglich, daß wir die Pflichten unsers Amtes erfüllen! um wie viel
weniger, daß wir die Liebe und das Zutrauen unsrer Untergebenen gewinnen! Nur
als Miethlinge müßten wir ihnen erscheinen! und könnten auch wirklich nicht viel
mehr als Miethlinge sein! Denn »jeder gute Hirt (so meinte schon unser Jesus)
muß eine Stimme besitzen, die seine Schafe kennen!« [Joh. 10, 4] Mag es also
noch so beschwerlich sein, es muß doch geschehen, soll dem Geringsten selbst in
unserm Vaterlande ja einmal aufgeholfen werden. Und wie? Kennen wir nicht so
viele andere Sprachen? Sprachen, die uns weit weniger angehen? lernen wir nicht
die Sprachen der Länder Frankreich, Italien, England mit so viel Fleiß und
Kostenaufwand? Wie sind wir nicht bestrebt, uns diese in möglicher
Vollkommenheit anzueignen, um von den Ausländern den wahrlich zweideutigen
Lobspruch zu vernehmen, daß wir wie Einer der Ihrigen sprechen? Wer sollte es
vermuthen, daß wir bei so vieler Aufmerksamkeit für eine fremde Sprache, so
wenig Fleiß nur auf unsre eigene Landessprache verwenden? So wenig Fleiß sage
ich? auch daß wir sie ganz vernachlässigen, sollt' ich behaupten, ja daß wir uns
— ein fast unglaublicher Umstand! — auch sogar schämen, sie zu sprechen! O m.
Fr.! bemühen wir uns, unsre Mitbürger von dieser Thorheit, die uns selbst den
Ausländern verächtlich macht, zuheilen. Weit mehr, als an die großentheils
unnütze Erlernung fremder Sprachen, denken wir doch an die vollkommene Erlernung
unserer beiden Landessprachen! und muntern wir, so viel wir ein jeder in unserm
Wirkungskreise vermögen, auch alle unsere Mitbürger auf zu einem gleichen
Verfahren!
2. Je vollkommener uns dies gelingen wird, je mehre Deutsche wir vermögen, die
böhmische; und je mehre Böhmen, die deutsche Sprache zu erlernen: um desto
leichter wird sich und zwar zum Theil schon von selbst das zweite Hinderniß
beheben, welches dem Gemeinsinn in unserm Vaterlande entgegen steht. Dieses ist
nemlich die Ungleichheit in der Gemüthsart, in den Begriffen und Gesinnungen,
die zwischen den böhmischen und deutschen Einwohnern unseres Landes statthat. Es
ist sich nicht zu wundern, daß Menschen von welchen der eine die Sprache des
andern nicht versteht, bei aller nachbarlichen Angrenzung in ihrer Gemüthsart,
in ihren Begriffen und Gesinnungen gleichwol sehr von einander abweichen. Ihnen
fehlt nemlich das ausgiebigste Mittel zur Verähnlichung, welches im Umgange
gegeben ist. Es ist die wechselseitige Mittheilung unserer Meinungen, welche bei
öfterem Umgänge stattfindet, es ist das Abhören der Gründe unsrer Meinung, und
die Beantwortung der wider sie erhobenen Gegengründe; es ist das öftere Sehen
der fremden Handlungen, und die oft nur unwillkürliche, aber doch niemals
unwirksame Nachahmung solcher Handlungen — was dem Umgange diese Kraft der
Verähnlichung ertheilt. Je öfter also und je ungehinderter die Bürger eines und
eben desselben Landes miteinander verkehren können, um desto mehr Aehnlichkeit
erhält auch ihre ganze Art zu denken und zu handeln. Fügen Sie hinzu, daß
Menschen, die einerlei Sprache verstehen, auch durch die größte Entfernung von
einander noch nicht gehindert sind, eine Art von Umgang zu pflegen, durch
schriftliche Aufsätze nemlich ihre Gesinnungen einander mitzutheilen; setzen Sie
bei, daß Menschen, die einerlei Sprache reden, ihre Begriffe und Kenntnisse
meistens auch aus denselben Quellen schöpfen, indem dasselbe Buch, welches der
Eine mit Beifall gelesen und dem Andern angepriesen hat, auch von diesem wieder
gelesen und zur Richtschnur angenommen wird; sie werden demnach gleichsam von
einerlei Lehren geleitet, folglich auch beseelt von einerlei Gesinnungen sein.
Wie sollte da nicht Eintracht und Gemeingeist herrschen unter ihnen? — Doch dies
erinnert Sie vielleicht von selbst m. F., daß es ein Mittel gebe, wodurch man
auch bei demjenigen Theile des Volks, welcher sich die Sprache des andern noch
nicht geläufig gemacht hat, gleichwol dieselben Begriffe und Gesinnungen, wie
sie bei diesem anzutreffen sind, verbreiten könne. Es ist die Übertragung der
Schriften, die von dem einen Theile des Volks am häufigsten gelesen werden und
den wichtigsten Einfluß auf seine Geistesbildung haben, auch in die Sprache des
Andern, um sie auch diesem brauchbar zu machen. Wohl freut es mich, sagen zu
können, daß auch in dieser unserer Versammlung es Einige gibt, welche an dieses
heilsame Geschäft bereits gedacht; ja selbst schon dasselbe in Angriff genommen
haben. Der Himmel gebe, daß dieser kleine Anfang von recht gesegnetem Erfolge
sei! Er gebe, daß sich der Mitarbeiter, welche Sie freundlich unterstützen,
Ihnen mit jedem Jahre stets Mehre gesellen! daß keine Eitelkeit und keine Sucht
sich auszuzeichnen, die bisherige Lauterkeit Ihrer Absichten trübe, und
Veranlassung zu Streit und Spaltungen, zu verderblichen Mißgriffen werde! Der
Himmel nehme sie in seinen Schutz, auf daß gewisse böse Menschen, die allem
Guten feind sind, nicht Gelegenheit finden, die unschuldigste und friedlichste
Unternehmung in einem Lichte darzustellen, in welchem sie der Ruhe des Staates
gefährlich erscheinen, und so durch obrigkeitliche Gewalt eingestellt werden
könnte!
3. Auf diesem Wege einer schriftstellerischen Thätigkeit ist es, auf welchem
auch das dritte Hinderniß des Gemeingeistes unter uns am glücklichsten bekämpft
werden konnte. Ich meine das Erbitterung erregende Verhältniß, in welchem die
deutschen Einwohner unsers Landes zu dessen älteren Bewohnern in früherer Zeit
gestanden sind, und zum Theile jetzt noch stehen. Daß dieses Verhältnis selbst
in all denjenigen Stücken, in welchen es noch besteht, aufgehoben werde, das m.
F. ist eine Sache, die man wohl eher wünschen als wirklich erwarten kann; zumal
da ihre Ausführung, selbst wenn der Staat sie wollte, noch andere große
Schwierigkeiten fände. So gibt es also durchaus kein anderes Mittel, wie trotz
dieses Mißverhältnisses den Bürgern unsers Landes Gemeingeist eingeflößt werden
könnte, durchaus kein anderes, das in unsrer Macht stände, als: die Verbreitung
solcher Einsichten im Lande, durch welche die Nothwendigkeit des Gemeingeistes
immer einleuchtender wird; und das Auftreten einzelner vortrefflicher Personen
aus jedem Volkstamme, welche durch ihre eigenen Vorzüge auch ihren ganzen
Volkstamm dem andern liebenswürdig machen. O daß doch Jeder aus uns in dieser
doppelten Rücksicht Alles, was seine Kräfte vermögen, leistete! Jeder, dem
höhere Gaben von Gott verliehen sind, der sich geeignet fühlt, auch als
Schriftsteller bei seinem Volke aufzutreten, möge für sicher annehmen, daß er
das ihm vom Himmel vertraute Pfund nicht besser anwenden könne, als wenn er
Schriften verfaßt, welche den Gemeingeist in unserm Lande befördern; Schriften,
durch welche unserm Volke allmälig einleuchtend wird die große Wahrheit: daß es
durch seine bisherige Entzweiung, durch jenen Mangel an Gemeingeist, welchen es
bisher bei so vielen Gelegenheiten gezeigt, Niemanden mehr als sich selbst
geschadet, Niemanden mehr Freude gemacht habe, als seinen Unterdrückern! — Aber
auch wem Gott so ausgezeichnete Anlagen nicht verliehen hat, daß er als
Schriftsteller mit Glück aufzutreten vermöchte, oder wen seine Verhältnisse an
dieser Art von Thätigkeit hindern, der unterlasse nicht zu thun, was er nur
immer für diesen edlen Zweck vermag! Wer er immer sei, in welchem Stand er
lebe, wird er nicht überall vielfältige Gelegenheit finden, mit seinen
Mitbürgern zu reden von dem gemeinen Besten? Gibt es nicht tägliche
Zusammenkünfte, in welchen wir uns mit der Erzählung und Anhörung merkwürdiger
Veränderungen, die das gemeine Wohl betreffen, unterhalten? Wie viele Anlässe
hier, die schiefen Urtheile unserer Mitbürger auf gute Art zu berichtigen; sie
mit den Vortheilen, welche der Gemeingeist hat, bekannter zu machen; ihnen zu
zeigen, wie vieles sie ausrichten könnten, wie vieles Gute auch bei ihnen zu
Staude kommen müßte, wenn sie nur ernstlich zusammen halten wollten? — Doch fast
noch mehr als von solcher Belehrung verspreche ich mir von dem zweiten Mittel,
das ich vorhin genannt habe. Denn so ist der Mensch geartet, er haßt und er
liebt oft einen ganzen Stand, ja selbst ein ganzes Volk um eines Einzigen
willen, der diesem Stande oder Volke angehört, und ihm sehr liebens- oder
hassenswerth dünkt. So kann — freuen wir uns dessen m. F.! — so kann ein jeder
Einzelne von uns, wenn er nur anders will, blos dadurch überaus viel zur
Aussöhnung der beiden Volkstämme in unserm Lande beitragen, daß er an seiner
eigenen Person ein hohes Muster der Vortrefflichkeit vor seinen Stammgenossen
darstellt, und besonders dem andern Volkstamme sich von einer recht
liebenswürdigen Seite zeigt. Ein jeder Böhme aus uns suche bei jeder
Gelegenheit, die ihm der Himmel herbeiführt, dem Deutschen Güte und Liebe zu
erweisen, ein jeder Deutsche thue ein Gleiches an dem Böhmen: und ich bin gewiß,
wenn nur das kleine Häuflein der hier Versammelten diese so leichte, schon in
jedem Augenblick sich belohnende Regel befolgen will, in weniger als zwei
Jahrhunderten müßte aller Haß der beiden Volkstämme unsers Landes verloschen und
vertilgt sein! Um wieviel gewisser, wenn Sie auch noch die übrigen Mittel, deren
ich heut erwähnte, alle gewissenhaft anwenden werden! O thun Sie es m. F.!
Bezeigen wir uns gegen so heilsame Aufforderungen, als es die gegenwärtigen
sind, nicht verstockt wie jenes Volk der Juden zu unseres Jesu Zeiten, das ihm
die bittere Klage erpreßte, wie er ihnen den Weg der Rettung vergeblich zeigen
wollte, »daß er vergeblich sich bemüht habe, es zu versammeln, so wie ein Huhn
die jungen Kücklein ver-sammelt!« [Matth. 23, 37] Ach schmählichster Untergang
war die Strafe dieser Verstockung — zum warnenden Beispiel für alle späteren
Völker! Erkennen wir also besser als jenes Volk, »was uns zum Heile dient) [Luk.
19, 42], auf daß auch wir in die Reihe derjenigen Völker zu stehen kommen, die
eben jetzt von neuem aufzuleben suchen, nachdem die Stütze der Tyrannei
zerbrach! Gott, welcher das Wohl der Völker liebt, wird auch uns beistehen im
bescheidenen Kampfe für die Freiheit! Amen.“ (Ebenda, S. 44-52)