Über die Ungleichheit und Zwietracht in Böhmen

 

Der vor 230 Jahren in Prag zur Welt gekommene Bernard Placidus Johann Nepomuk Bolzano (1781-1848) ist nicht nur ein bis heute beachteter Philosoph und Wissenschaftstheoretiker[i], sondern er hinterließ auch bemerkenswerte Gedanken über die nationale Zwietracht in seinem Lande. Obwohl der Name „Bolzano“ im tschecho-sudetendeutschen Milieu, also in den publizistischen Kreisen, die sich die von sudetendeutschen Organisationen propagierten Geschichtsbilder zu eigen gemacht haben, inzwischen zu einer populären Metapher geworden ist, sind seine Überlegungen über die Ursachen dieser Zwietracht heute in der deutschsprachigen Öffentlichkeit kaum bekannt.

 

Bernard Bolzano, ein im Jahre 1819 von den Behörden aus dem österreichischen Universitätsleben vertriebener Professor für Religionsphilosophie, erkannte schon damals die Ungleichheit als die wichtigste Ursache der viel beklagten Nationalitätenkonflikte zwischen den Böhmen (wie man damals noch auf deutsch die tschechische Nation bezeichnete) und den Deutschen. Bolzano hob insbesondere die sprachliche Ungleichheit zwischen dem Böhmischen und dem Deutschen im öffentlichen Leben Böhmens und plädierte gleichzeitig dafür, mit ungewöhnlich modernen Mitteln die Zwietracht zu überwinden, wie z. B. durch die Aufarbeitung vergangenen Unrechts oder die Ablehnung pejorativer Stereotypisierungen.

 

Der Name „Bolzano“ wird häufig als Metapher mißbraucht, so etwa in den Werken von Jan Patočka, Petr Pithart oder Ernst Nittner.[ii] Ohne Rücksicht auf die empirisch-historischen Kontexte wird Bolzano dabei zu einem Gegenspieler des vermeintlichen verfehlten tschechischen Nationalismus gemacht. „Bolzano“ auf der einen und Persönlichkeiten wie František Palacký oder Tomáš G. Masaryk auf der anderen Seite wurden und werden geradezu gegensätzlichen Denktraditionen zugeordnet.

 

„Bolzano“ wird zu einem einsamen Protagonisten des böhmischen Landespatriotismus stilisiert; Palacký dagegen habe den deutsch-tschechischen Gegensatz konstruiert und sei ein Apostel des sogenannten Nationalitätenkampfes gewesen. Bolzano habe eine Tradition begründet, die für „Kategorien des Menschlichen, der Humanität, der Grundrechte, der Verantwortung für Fortschritt und Bildung, der Untelbarkeit des Rechts“ stehe, während Palackýs als ein „Gescheiterter“ stilisiert und für allerlei Unheil in der moderner mitteleuropäischer Geschichte verantwortlich gemacht wird. Seine „Lehre vom elementaren Gegensatz der Völker, seine radikale Verteilung von Recht und Unrecht, von Gut und Böse trug für den Donauraum den Todeskeim in sich. Die neue Lehre türmte Mauern, die den Willen zur übernationalen Gemeinschaft auf beiden Seiten lähmen, wenn nicht brechen mußten; und sie trug auch die Rechtfertigung für diesen Bruch in sich, als jene, die zum Äußersten entschlossen waren, Jahrzehnte später die Axt auf Mitteleuropa legten.“[iii]

 

Die Propagandisten dieser „Bolzano“-Metapher verschweigen, dass Bolzano gerade unter den tschechischen intellektuellen Eliten stets viele Sympathisanten und Bewunderer hatte und als eine der inspirierendsten Persönlichkeiten seiner Zeit galt. Dazu zählten einflussreiche Autoren wie František Ladislav Čelakovský, Josef Dobrovský, František Palacký, Karel Havlíček oder Jan Evangelista Purkyně, aber auch etwa die Enkelin Palackýs und Bolzano-Biographin Marie Červinková-Riegrová[iv], oder der in unserer Gegenwart bekannteste Kenner des Lebenswerks Bolzanos, Jaromír Loužil.

 

Bolzanos geistige und moralische Haltungen und Handlungen waren den humanistischen Traditionen des aufgeklärten Katholizismus verpflichtet. Das brachten ihm aufrichtige Bewunderer ebenso wie seitens der kirchlichen und habsburgischen Behörden schwere Verfolgungen. Sie inspirierten ihn aber auch zu seinen aus heutiger Sicht geradezu modern anmutenden Überlegungen zur Lösung nationaler und ethnischer Konflikte.

 

Bolzanos Ausführungen zu Fragen nationaler Identitäten im allgemeinen sowie seine Überzeugung, dass der wechselseitige Respekt und die Gleichberechtigung aller Bewohner des Landes, unabhängig von ihrer ethnischen Zugehörigkeit, die unabdingbaren Voraussetzungen für den nationalen Ausgleich in Böhmen seien, fanden während des gesamten 19. und 20. Jahrhunderts ein breites Echo. Die unterschiedliche Rezeption Bolzanos bei Tschechen und Deutschen muß sicherlich noch geschrieben werden. Zweifellos aber hat Bolzano Vorstellungen und Ideen formuliert, mit denen Grundlagen für wertvolle Traditionen im Nachdenken über die Probleme Böhmens und nicht nur Böhmens allein gelegt wurden. Wenn der Missbrauch des gegenwärtig modischen Schlagworts vom Nationalismus als der größten Ursache allerlei historischen Übels endlich kritisch aufgearbeitet werden sollte, dann wird die Kenntnis der Texte Bolzanos aus dem frühen 19. Jahrhundert als ein wichtiger Baustein erkannt werden.

  Für einen Auszug aus Bolzanos Texten „Über das Verhältnis der beiden Volkstämme in Böhmen. Drei Vorträge im Jahre 1816 an der Hochschule zu Prag gehalten“ HIER

 

[i] Beachte den instruktiven Artikel über Bolzano in der englischsprachigen wikipedia http://en.wikipedia.org/wiki/Bernard_Bolzano

[ii] Jan Patočka: Dilema v našem národním programu: Jungmann a Bolzano, in: Jan Patočka: Náš národní program, Praha 1990, s. 41 - 56; Petr Pithart: Pokus o vlast. Bolzano, Rádl, Patočka a my, in: Svědectví č. 59, 1979, s. 445 - 464; Ernst Nittner: Bolzano - Rádl - Patočka. Eine gesellschaftsphilosophische Alternative zum nationalpolitischen Programm, in: Ferdinand Seibt, Hg.: Die Chancen der Verständigung. Absichten und Ansätze zur übernationalen Zusammenarbeit in den böhmischen Ländern 1848-1918, München 1987, S. 11-31

[iii] Für die Zitate in diesem Abschnitt siehe Nittner (ebenda, S. 28 und S. 11) sowie den von Nittner zitierten Richard Georg Plaschka: Von Palacký bis Pekař. Geschichtswissenschaft und Nationalbewußtsein bei den Tschechen, Graz-Köln 1955, S. 25

[iv] Marie Červinková[-Riegrová]: Bernard Bolzano. Životopisný nástin, Praha 1881