Edvard Beneš und die europäische Idee

Zu den heute modischen Geschichtslegenden gehört die Behauptung, dass die Europäer des 19. und frühen 20. Jahrhunderts dem Nationalismus verfallen seien. Erst die Schrecken des Zweiten Weltkriegs und die westeuropäische Integration sollen sie geheilt haben. Man fragt dabei nicht konkret, wer welchen Formen des nationalen Bewußtsein huldigte und wer sich um die Überwindung von nationalen Animositäten bemühte und wer sie schürte. Als berüchtigte ‚Nationalisten‘ der Zwischenkriegszeit werden demnach häufig die Franzosen und die Tschechen angeprangert, der konservative österreichische Graf Richard N. Coudenhove-Kalergi als Vater der paneuropäischen Idee gefeiert und der einstige tschechoslowakische Präsident Edvard Beneš als Erznationalist par excellance verunglimpft.

Diese Nationalismus-Legende ist vielleicht auch der Grund, warum sich heute kaum noch jemand an die Bemühungen der französischen und tschechischen Politik um die europäische Einigung von damals erinnert. In Wirklichkeit kam vor 85 Jahren aus Frankreich ein heute nahezu vergessener Impuls zur Überwindung nationaler Grenzen und Animositäten in Europa, an den das damals auch auf deutsch erschiene Buch Vereinigte Staaten von Europa von Édouard Herriot (Leipzig 1930) erinnert.

„Der Ministerpräsident und Außenminister Frankreichs, Aristide Briand, entwickelte in seiner Rede vom 2. September 1929 vor der zehnte Völkerbundversammlung die Idee, die gegenwärtig von allen Ländern Europas geprüft wird,“ schrieb Herriot und berichtete ausführlich über jene heute kaum bekannten Ereignisse. Der französische Staatsmann Aristide Briand (1862-1932) war kein Nationalist, und wurde zusammen mit Gustav Stresemann im Jahre 1926 sogar mit dem Friedensnobelpreis geehrt. Seine Überlegungen von 1929 gehören zu den wichtigsten Schritten auf dem Weg zur europäischen Einigung:


„Ich glaube, daß zwischen geographisch so zusammengehörenden Völkern, wie den europäischen, eine Art vereinigendes Band bestehen muß. Diese Völker müssen jederzeit die Möglichkeit haben, miteinander in Fühlung zu treten, über ihre gemeinsamen Interessen zu beraten, gemeinsame Entschlüsse zu fassen. Sie müssen, mit einem Wort, untereinander ein Band der Solidarität schaffen, das sie in die Möglichkeit versetzt, im gegebenen Augenblick schwierigen Umständen, sobald solche entstehen, die Stirn zu bieten.“ (Herriot, s. 51)


Auch der Politiker und Staatsman Édouard Herriot (1872-1957) war ein begeisterter Anhänger der Idee europäischer Solidarität und setzte sich für den Plan einer europäischen Föderation ein. In seinem Buch berichtete er auch über die Reaktionen auf Briands Rede, die keineswegs pauschalisierende als ‚positiv‘ oder ‚negativ‘ zu bezeichnen sind.
Ein Teil der deutschen Presse, zum Beispiel die Norddeutsche Allgemeine Zeitung, habe sich sofort mit Heftigkeit dagegen gewandt, während etwa die Vossische Zeitung Briands Hoffnungen mit Wohlwollen begrüßte und für die Verständigung zwischen Deutschland und Frankreich als Grundbedingung eintrat, sollte ein Bündnis der europäischen Völker zustande kommen und von Dauer sein. Britische Reaktionen seien dagegen durchwegs äußerst negativ, berichtete Herriot:
 

„Die Daily Express schreibt: ‚Unser Volk hat weder die Absicht, einen staatlichen noch einen politischen Teil Europas zu bilden. Wir sind zu einem höheren Schicksal berufen. Gedenken wir des Britischen Reiches; […] Groß-Britannien und Pan-Großbritannien mögen in den gegenseitigen Handelsbeziehungen ihren vornehmlichsten und bedeutendsten Markt finden.“ (Herriot, S. 53f.)


Siebenundzwanzig europäische Staaten begrüßten die Initiative des französischen Premierministers mit Wohlwollen, aber nicht nur das:
 

„Alsbald machten sich die Propagandisten für die paneuropäische Idee ans Werk. Wir gehörten zu ihnen. Versammlungen, die in Wien, Berlin und Prag von einer sehr bedeutenden Zuhörerschaft stattfanden, bewiesen uns, daß die öffentliche Meinung geneigt war, eine so großzügige Idee, die für das Geschick Europas von so großem Nutzen wäre, mit Sympathie aufzunehmen.“ (Herriot, S. 55)


Herriot hob insbesondere den Beitrag des tschechoslowakischen Präsidenten Edvard Beneš (1884-1948) hervor. Der heute als Vater der Paneuropaidee bekannte Richard N. Coudenhove-Kalergi (1894-1972) war tschechoslowakischer Staatsbürger und fand in den beiden bekannten Staatsmännern Tomáš G. Masaryk und Edvard Beneš von Anfang Gönner und Förderer für seine Ideen; als er 1925 zum ersten Mal nach Paris reiste, um für letztere zu werben, öffneten ihm Benešs Empfehlungsschreiben manch eine Tür in die Büros der französischen politischen Eliten. (Verena Schöberl: „Es gibt ein großes und herrliches Land, das sich selbst nicht kennt. … Es heißt Europa.“ Die Diskussion um die Paneuropaidee in Deutschland, Frankreich und Großbritannien 1922-1933, Münster et al. 2008, S. 61)

Éduard Herriot zitierte in seinem Buch ausführlich den Wortlaut der Europa-Rede Edvard Benešs von 1929:
 

„Obgleich ich ein leidenschaftlicher Patriot bin und mich ganz besonders für die Annäherung zwischen den slawischen Nationen einsetze, zögere ich nicht, zu erklären, daß ich ein eifriger Anhänger der paneuropäischen Idee von Zusammenarbeit und Annäherung bin. Es gibt für uns heute keinen andern Ausweg: entweder machen wir uns ans Werk, eine Art neuer Union zwischen den Staaten und den europäischen Völkern zu schaffen, und zwar vom moralischen, wirtschaftlichen und politischen Standpunkt aus, und gelangen so zu einer möglichst engen und beständigen Zusammenarbeit, oder wir leben in der steten Gefahr, daß sich Schwierigkeiten, Konflikte und ewige Krisen ergeben, die zu Kriegen und Katastrophen führen, in denen die europäische Kultur zugrunde geht.
Ersteres ist unbedingt das Wichtigste. Hier handelt es sich nicht um die politische Überzeugung dieses oder jenes Staatsmannes, es handelt sich um das unmittelbare, lebensnotwendige Interesse jedes Volkes und jedes Staates. Der Völkerbund fördert diese wichtigen Bestrebungen sicherlich im breitesten internationalen Rahmen. Die internationale Zusammenarbeit zugunsten des Friedens hat innerhalb dieser Organisation einen Umfang angenommen, den noch vor zehn Jahren niemand vorausgeahnt hätte.
In diesem Rahmen formt sich ein neues Bündnis der Menschheit, entwickeln sich zahlreiche neue Verbindungen mit sozialem und moralischem Zweck, erhebt sich endlich das gestaltende Werk der internationalen Zusammenarbeit zu einem immer höheren Niveau. Aber von besonderer Wichtigkeit ist, daß die neuen Methoden, Konflikte und Differenzen zwischen den Staaten und Nationen durch Vermittlung und Schiedsspruch zu schlichten, dank dem Völkerbunde immer mehr an Sinn und Verwirklichungsmöglichkeit zunehmen und sich in die Weltpolitik einfügen, indem sie moralisch und tatsächlich ihre Wirksamkeit derart steigern, daß keine Regierung eines zivilisierten Staates sie heute ignorieren kann.
Die paneuropäische Idee, soweit sie sich den Satzungen und dem Rahmen des Völkerbundes fügt, bemüht sich, auf wirtschaftlichem und politischem Gebiete die engste friedliche Zusammenarbeit der verschiedenen nationalen Staaten zu verwirklichen, und zwar innerhalb eines, durch die geographische Einheit des europäischen Kontinents geschaffenen, konkreten Gefüges; sie bemüht sich, eine europäische Vereinigung auf der Grundlage einer moralischen, wirtschaftlichen und politischen mehr oder weniger übereinstimmenden Interessengemeinschaft zu schaffen, behütet und achtet dabei jedoch in vollem Maße die Rasseneigentümlichkeiten und Nationalitäten der verschiedenen Staaten, den Eigencharakter ihrer nationalen Kultur, diesen kostbaren Schatz der gesamten menschlichen Kultur.
Ich bestreite nicht die Schwierigkeiten dieses ungeheuren Planes, denn die Idee selbst verdient noch vertieft, ausgebaut und konkreter dargestellt zu werden. Ich weiß, daß es einer langwierigen, unermüdlichen Arbeit bedarf, daß es die schwierigsten Verwicklungen zu lösen gilt, dennoch zweifle ich nicht an der Nützlichkeit und Dringlichkeit des Planes. Zu seiner Verwirklichung müssen sich leidenschaftliche und begeisterte Herzen vereinigen, die ein aufrichtiges Gefühl für die Menschheit beseelt, aber auch überlegte und umsichtige Köpfe, die niemals den Sinn für die politischen Realitäten verlieren; das ist die Ordnung, der ich mich füge, und in diesem Sinne werde ich stets meine Arbeitskraft in den Dienst der Verwirklichung dieser großen Idee stellen.“ (Herriot, S. 54-56)


Im tschechischen historischen Gedächtnis waren Benešs Ideen zur europäischen Einigung nicht neu. Wie Édouard Herriot in seinem Buch erinnerte, gehörte schon der böhmische König Jiří z Poděbrad (1420-1471), der oft auch als ‚Hussitenkönig‘ bezeichnet wird, zu den ersten und wichtigsten Vorläufern der paneuropäischen Idee:
 

„Einige Beispiele aus der Geschichte werden genügen. Gleich das erste ist reich an Bewegung. Versetzen wir uns an den böhmischen Hof von Georg von Podiebrad . […] Wir befinden uns im fünfzehnten Jahrhundert in Gesellschaft eines klugen Fürsten. In einem blassen, hagern Gesicht verraten lebendige Augen weitblickende und klare Intelligenz. Dieser kleine, stämmige, überlegte Mann, den der Prager Landtag zum König ausgerufen hat, versteht zu kämpfen. Er versteht auch zu denken. Böhmen verdankt ihm seine nationale Einheit. Er träumte davon, Europa zu organisieren und ihm einen Körper und eine Seele zugleich zu geben.
Georg hatte einen seltsamen französischen Abenteurer zur Seite, Antoine Marini de Gratianopoli (Grenoble), den der böhmische König von 1460 bis 1465 als diplomatischen Agenten verwendete. Georg von Podiebrad hatte den Plan gefaßt, eine internationale Congregatio Concordiae zu schaffen, das heißt eine Art Völkerbund; nachdem er sich der Einwilligung Polens und Ungarns versichert hatte, sandte er 1464 an Ludwig XI. eine Botschaft, um ihn für seine Idee, die gesamte Christenheit zu einem Bündnis gegen die Türken zusammenzuschließen, zu gewinnen. Die Abgesandten waren mit einer Denkschrift versehen, die den Plan in allen Einzelheiten enthielt. Georg beabsichtigte in Wirklichkeit, durch dieses Unternehmen die verschiedenen weltlichen Mächte gegen die Ansprüche des Heiligen Stuhls in Rom zu schützen. Der Kirche blieb dieser Hintergedanke nicht lange verborgen; ihm entsprossen alle Schwierigkeiten, die sich dem Fürsten in den Weg legten.

An der Spitze der Abgesandten stand Herr Albrecht Kostka von Postupiz, dem Marini als Dolmetsch diente. […] Die Abgesandten nahmen ihren Weg über Bayreuth, Nürnberg, Stuttgart, Straßburg, Saint-Dié, Lüneville, Bar-le-Duc, Reims, Saint-Quentin und Amiens, um in die Normandie zu gelangen, wo der König sich auf der Jagd befand. In Abbeville fand ein Bankett statt, das Herr Kostka den vornehmen Bürgern zu Ehren veranstaltete; trotz der Machenschaften der beunruhigten Geistlichkeit wurden die Abgesandten des ketzerischen Königs von Böhmen Seiner Majestät vorgestellt. Ludwig XI. hatte sich soeben in Reims krönen lassen; er führte gleichfalls, unterstützt von den Leuten niederen Standes, die seine Umgebung bildeten, einen heftigen Kampf gegen die Geistlichkeit, den Feudaladel und das Parlament.

Hören wir die Botschaft Georgs selbst: „Der König von Böhmen bittet und beschwört Seine Majestät den König von Frankreich, den allerchristlichsten König, den Verteidiger des wahren Christenglaubens, allergnädigst die Einberufung des Landtages und die Versammlung der christlichen Fürsten anzuordnen, auf daß sie selbst oder ihre bevollmächtigten Räte sich am bestimmten Tage und am bestimmten Orte gemäß dem Wunsche des Königs von Frankreich zusammenfinden. Der König von Böhmen äußert diesen Wunsch zur Ehre Gottes und zur Wiederaufrichtung des christlichen Glaubens, des gemeinsamen christkatholischen Glaubens und des Heiligen Christlichen Reiches.“
Diese Denkschrift wurde dem Kanzler Pierre de Morvilliers, Jean Balus und Louis d’Harcourt zur Prüfung übergeben. Doch die Geistlichen verlangten, daß zuvor die Zustimmung des Heiligen Vaters und des Kaisers eingeholt würde. Die Debatte, die sich daraufhin erhob, ist nicht nur interessant, weil sie bereits das Problem des Völkerbundes aufrollte, sondern weil sie auch die so häufig aufgeworfene Frage von den Beziehungen zwischen der weltlichen und der geistlichen Macht zur Sprache bringt. Herr Kostka gebraucht sogar ausdrücklich das Wort Laizismus. Er sagt: „Alle Fragen, die aus der Kompetenz des Heiligen Vaters hervorgehen, sind Seiner Heiligkeit und Seiner Majestät dem Kaiser vorbehalten. Doch ihr, hohe Geistlichkeit, welch seltsamer Fall! ihr seht es nicht gerne, ihr gebt es nicht zu, daß die Laien untereinander die Fragen des Heiles behandeln; ihr verlangt, daß alles kraft eurer Macht und eures Ansehens geschieht; und ihr wollt über alle Angelegenheiten der Laien, die nur diese angehen, unterrichtet sein.“

Doch die Männer der Kirche trugen den Sieg davon, und die Böhmen erreichten weiter nichts als einen freundschaftlichen Vertrag, den König Ludwig XI. am 18. Juli 1464 unterzeichnete. Die Abgesandten begaben sich nach Böhmen zurück. Es liegt die Frage nahe, ob die Geschichte nicht einen völlig anderen Verlauf genommen hätte, wenn der französische König eingewilligt hätte, diese erste Europäische Föderation, gegen eine Gefahr gerichtet, die damals von Asien her drohte, zu bilden und sich an ihre Spitze zustellen. Mahomet II. hatte soeben Konstantinopel eingenommen und es zur Hauptstadt seines Reiches erhoben. Er hatte desgleichen einen Teil Serbiens erobert, Trapezunt eingenommen und der Dynastie der Komnenos ein Ende bereitet. Er hatte die Walachei, Griechenland und Bosnien mit Krieg überzogen. Die einzigen, die ihm widerstanden, waren der Albanese Skanderbeg und der Ungar Johann Hunjadi. Ihm unterlagen später auch Venetien und Genua. So sah die türkische Gefahr aus, die in Europa zum ersten Male die Idee einer Vereinigung zum Zwecke gemeinsamer Verteidigung ins Leben rief.“ (Herriot, S. 22-25)
 


Die Schlagworte ‚Nationalismus‘ und ‚Europa‘ werden oft als Gegensätze verwendet, und im deutschen Diskurs gelten heute die beiden Namen Beneš und Coudenhove-Kalergi als Symbole zwei widersprüchlicher Traditionen und politischen Gesinnungen. Der historische Rückblick zeigt dagegen ein anderes Bild. Aus der langen Geschichte der Bemühungen um ein friedliches Zusammenleben in Europa ergeben sich bemerkenswerte Erfahrungen, aus denen wir viel Nützliches für gegenwärtige Konfliktlösungen lernen könnten. Dazu wäre es allerdings nötig, stets konkrete Haltungen und Argumentationen konkreter historischer Personen nicht aus den Augen zu verlieren und sorgfältig zwischen ihnen zu unterscheiden. Erst dann können wir uns von Vorurteilen, Phrasen und Stereotypen befreien und historische Verantwortlichkeiten für unterschiedliche Entscheidungen und Entwicklungen präzise zuordnen und dementsprechend aus der Geschichte lernen.

Von Edvard Beneš stammen übrigens aus der zweiten Hälfte der 1930er Jahre Texte, mit denen sich klar belegen läßt, daß der Begriff ‚Nation‘ schon damals in Europa keineswegs überall gleichbedeutend mit den Inhalten war, die ihm im nationalsozialistischen Deutschland gegeben wurden. Die ‚Nation‘ mußte nicht einen vorwiegend exkludierenden Charakter haben, er wurde auch nicht als Widerspruch zur Idee friedlicher Konfliktlösungen, zu kulturellen Gemeinsamkeiten und Brücken zwischen unterschiedlichen Nationen sowie auch zur Idee der Einheit und Gemeinsamkeit Europas verstanden, sondern Nationen galten als die notwendigen Bestandteile, aus denen sich (auch ein sich vereinigendes) Europa zusammensetzte. ‚Nation‘ mußte also nicht überwunden werden, um ‚Europa‘ herzustellen. Im Folgenden seien hier die Gedanken zum Nationalismus und die Nationsvorstellungen des tschechslowakischen Präsidenten von 1937 auszugsweise dokumentiert −  Edvard Beneš über den Nationalismus